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Roland Salz                                                                      
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Flügelaltar Sonntagsseite

Jacobikirche Göttingen Flügelaltar Sonntagsseite

Bild: License

XII. Die Sonntagsseite

 

Die erste Wandlung oder Sonntagsseite des Göttinger Jacobi-Retabels zeigt, bei weit aufgeklappten äußeren Flügeln, nunmehr doppelt so viele Szenen aus dem Leben Christi. Erklärende Inschriften unter den einzelnen Szenen sind hierzu im Mittelalter nicht nötig gewesen, man wußte, um welche Episoden es sich handelte. Wieder von links nach rechts und Zeile für Zeile gelesen, ergibt sich diese Abfolge:

In der oberen Zeile:

  • Die Verkündigung an Maria,
  • Mariä Heimsuchung,
  • Die Geburt Christi,
  • Die Anbetung der Könige,
  • Die Flucht nach Ägypten,
  • Darstellung Christi im Tempel,
  • Der zwölfjährige Christus im Tempel,
  • Die Taufe Christi.

Und in der unteren Zeile:

  • Das Gebet im Garten Gethsemane am Fuße des Ölbergs,
  • Die Gefangennahme Christi,
  • Die Verurteilung durch Pontius Pilatus,
  • Die Geißelung,
  • Die Kreuztragung,
  • Die Kreuzigung (Christus am Kreuz zwischen Johannes und Maria),
  • Die Grablegung,
  • Die Auferstehung.

Was die Art und Weise der Darstellung betrifft, so fallen im Vergleich zur Werktagsseite sowohl Gemeinsamkeiten als auch charakteristische Unterschiede ins Auge. Die beiden oberen und die beiden unteren Szenen auf jedem der vier (äußeren bzw. inneren) Flügel sind nicht mehr durch reale Holzleisten voneinander getrennt, sondern die gesamte Fläche der vier Szenen ist jetzt rein malerisch gestaltet. Die gemalten Rahmungen der Szenen sind aber gegenüber der Werktags- seite verstärkt und auf eine andere Ebene gehoben: nicht mehr als illusionistische Holzleisten zeigen sie sich, sondern als perspektivie- rend gemalte Architektur aus Stein: schwere, graue Pfeiler, durch Vorlagen wuchtig profiliert, begrenzen die Szenen außen und trennen sie innen voneinander ab, während der Boden der oberen Bildreihe wie eine graue, in einem Schnitt geöffnete Geschoßdecke zugleich die Decke der unteren Bildreihe bildet. Die Sockel und Kapitelle der Pfeiler fluchten vorne mit diesem Schnitt durch das nunmehr zweistöckige Gebäude, in dem sich die einzelnen Szenen abspielen wie in den Zimmern einer Puppenstube.

          Wieder finden sich die genau gleichen, gemusterten Fliesen- böden in jedem der sechzehn Kompartimente, diesmal aber nicht mehr in monochromem Rot wie beim Jacobizyklus, sondern auf Goldgrund. Durch die schweren Pfeiler sind die Kompartimente verengt, und so gibt es noch mehr Überschneidungen dieser architektonischen Trenn- glieder durch quasi räumlich hervortretende Bildelemente, sei es etwa ein Flügelende des Verkündigungs- oder, am anderen Ende der obe- ren Zeile, des Taufengels, das Lesepult der jungfräulichen Maria, das Handwaschbecken des Pilatus, die Geißeln der Schergen oder aber die Kreuzarme. Der Eindruck von Räumlichkeit dieser Quasi-Innenraum- darstellungen erfährt gegenüber der Heiligenvita aber auch dadurch noch eine Steigerung, daß nicht nur der Fliesenboden und die Pfeiler, sondern auch eine einheitliche karmesinrote Kassettendecke über den Kompartimenten perspektivisch nach hinten in die Tiefe des Bildraumes fluchtet. Wieder bilden die angedeuteten Innenräume aber nur den Vordergrund für die Szenen. Der Hintergrund ist weitgehend unge- staltet, nur mit den allernötigsten, zum Verständnis der Szenen absolut notwendigen Requisiten ausgestattet.

          Im Gegensatz zur Heiligenvita zeigt sich der Christuszyklus viel- farbig: während das Grau der Pfeiler demjenigen des Gewands Jesuʼ entspricht, ist der äußere Umhang Marias in Blau gefaßt, der innere in Rot. Auch viele andere Figuren tragen leuchtend rote Gewänder, von einem der Könige über Josef auf der Flucht nach Ägypten, Johannes den Täufer, den Judas der Gefangennahme, Pilatus am Handwasch- becken und einen der Schergen der Geißelung bis zum Apostel Johan- nes der Kreuzigungsszene. Der Verkündigungsengel trägt ein leuch- tend oranges Gewand, braune und grünliche Kleidungsstücke anderer Personen vervollständigen die Palette. Die Figuren, die mit ihren Ge- wändern oftmals über dem Fliesenboden zu schweben scheinen, he- ben sich nun nicht mehr vor einem düsteren, fast schwarzen Hinter- grund ab, sondern vor Goldgrund. Und goldfarben sind jetzt auch die Heiligenscheine gefaßt.

          Einerseits scheinen die Figuren sich geradezu im selben Kirchen- raum zu befinden wie der Betrachter des Retabels: sie stehen ebenfalls zwischen Pfeilern, kommen zwischen diesen fast bis zum Betrachter hervor. In die Perspektivik der gemalten Innenraumarchitektur hinein- gestellt, kommt ihnen eine große Realitätsnähe zu. Andererseits sind viele der gemalten Szenen aber geradezu bewußt unrealistisch darge- stellt: da führt Josef seine Familie auf einem Esel hinter den Pfeilern auf dem Fliesenboden entlang, der weite Weg durch die Halbwüste nach Ägypten ist durch eine einzelne Palme angedeutet, deren Wedel sich aus dem Hintergrund heraus vor einen der Pfeiler schiebt. Das Lesepult der Maria in der Verkündigungsszene ist vorne am Trennpfeiler zur nächsten Szene montiert, kommt als Requisit also auch noch für die Heimsuchung in Betracht. Der Malchus der Gefangennahme, dem Petrus gerade das rechte Ohr abschlägt, hat einen Kopf so klein wie das Jesuskind bei der Präsentation im Tempel. Noch kleiner sind die bewachenden Soldaten gemalt, die die Auferstehung Christi ver- schlafen. Überhaupt sind die Größenverhältnisse der Personen alles andere als naturalistisch: der Christus der Gefangennahme ist ein Rie- se im Vergleich zu den anderen Beteiligten, Judas muß sich für den Kuß zu ihm heraufrecken. In den folgenden Szenen bis zur Kreuzigung wird die Christusfigur immer kleiner und schmächtiger, erst bei der Auferstehung hat er seine normale Körpergröße wiedergefunden. Es bedarf keiner besonderen Phantasie, um sich vorzustellen, was der Maler mit diesen Größenveränderungen im Verlauf der Passionsge- schichte hat aussagen wollen.

          Von bemerkenswerter malerischer Abstraktion zeugt die Tauf- szene. Hier ist die Landschaft mit dem Fluß Jordan nur als kleines Feld auf das Tuch gemalt, das der Taufengel vor die Blöße Christi hält. Das Muster des Tuches schimmert sogar noch durch diese Landschaft hindurch. Von diesem dezenten Hinweis abgesehen findet die ganze Szene wiederum auf dem Fliesenboden zwischen den Säulen und unter der karminroten Kassettendecke statt. Und auch bei der Geburtsszene hat sich der Maler keinerlei besondere Mühe gegeben, den ärmlichen Stall mit Krippe und Tieren darzustellen: im Gegenteil, ein großes, komfortables Bett, vor dem Maria kniet, steht in dem von den Pfeilern getragenen Raum, und hinter diesem, in Marias Blickrichtung, scheint ein rechteckiger Kasten, fast könnte man sagen: ein Altar, ein Opferaltar, zu schweben, auf dem das Jesuskind nackt und hilflos liegt und seine Ärmchen zur Mutter herunterreckt. Man fühlt sich an die Opferungsszene des Isaak erinnert. Nur zwei Tierköpfe, die hinter dem Kasten hervorblicken, bringen dem Betrachter die überkommenen Motive der Geburtsdarstellung zu Bewußtsein.

 

 

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