Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

VII. Der Grundriß und die Halle (Großer Saal)

 

Wie um einen gewissen Ausgleich zu schaffen, stellt der Grundriß des Alten Rathauses, ganz im Gegensatz zum Außenbau, ein Muster von harmonischer Ausgewogenheit und Symmetrie dar. Zentraler und wich- tigster Raum ist der langgestreckte Große Saal, der fast die gesamte Längsseite im Osten, zum Markt hin einnimmt. Die beiden spitzbogigen Portale führen von der Rampe aus, wie wir gesehen hatten, direkt in diesen Saal. Im Norden und Süden von ihm liegen symmetrisch je zwei kleinere Räume nebeneinander, die aber erst nachträglich vom Großen Saal abgetrennt wurden. Ursprünglich nahm die Halle also die gesamte, 41 Meter lange Ostseite des Gebäudes ein.

          Dieser östliche Gebäudeteil gibt die ursprüngliche Tiefe des Alten Rathauses von vor 1370 wieder. Im schmaleren westlichen Gebäude- teil, der, wie wir gesehen hatten, im Norden um 1370, im Süden dage- gen erst gegen 1400 hinzukam, liegen sich an den Enden – wiederum symmetrisch – die gleichgroßen Räume der Alten Dorntze und der Neu- en Dorntze gegenüber, die alten Ratssäle also, dazwischen ist die aus zwei etwa gleich großen Räumen bestehende Ratsküche sowie zusätz- lich ein kleiner Vorraum für die Alte Dorntze eingefügt. Alle diese Räu- me auf der Westseite des Rathauses liegen in einer Reihe hinterein- ander, haben dieselbe Tiefe und sind untereinander durch Türen ver- bunden. Die Neue Dorntze im Süden sowie die Ratsküche in der Mitte sind über Türen, die in die mehr als meterdicken ursprünglichen Außen- mauern geschnitten sind und zu denen Stufen hochführen, direkt vom Großen Saal aus zugänglich; die Alte Dorntze im Norden dagegen nur über den kleinen Vorraum, der vom Mittelabsatz der ins Obergeschoß führenden offenen Haupttreppe im Großen Saal aus erreicht werden kann.

          Was heute die Stadthalle für Göttingen darstellt, war im Mittelalter die Halle, der Große Saal des Rathauses. Noch heute finden hier regel- mäßig Lesungen und kleinere Konzerte statt, ganz abgesehen vom traditionellen Neujahrsempfang des Oberbürgermeisters. Im Mittelalter aber war die Halle der Veranstaltungsraum schlechthin. Nicht nur tagte hier der Rat der Stadt (bevor er dafür einen eigenen Raum bekam), sondern auch die Kaufmannsgilde. Bekam die Stadt Besuch von ihrem Landesherrn, so fand der Empfang in der Halle statt, genauso wie alle anderen Arten von städtischen Feierlichkeiten. Auch getanzt wurde in der Rathaushalle nicht selten, besonders ausgelassen ging es zwi- schen Weihnachten und der Fastenzeit zu. Und wenn fahrende Schau- spieltrupps in Göttingen haltmachten, fanden die Aufführungen eben- falls hier statt. Dann aber konnte die Halle unvermittelt wieder zum Gerichtssaal werden, wo über Leben und Tod entschieden wurde, denn auch im Inneren befindet sich noch heute eine aufwendig gestaltete Gerichtsnische.

          Der Große Saal, ein Raum von 26 Metern Länge und zehn Metern Tiefe, gibt noch heute einen mittelalterlichen Eindruck, obwohl er gegen Ende des 19. Jahrhunderts stark umgestaltet wurde. Die über und über mit pflanzlichen Ornamenten bemalte Decke mit ihren dicht nebeneinanderliegenden Querbalken wird in der Mittelachse des Rau- mes von einem einzigen Unterzug getragen, der seinerseits nur durch zwei schlanke, hölzerne Pfeiler gestützt wird, von achteckigem Quer- schnitt und oben mit je zwei geschweiften Kopfbändern verstrebt. Die gesamte Deckenkonstruktion der Halle, die auf diese Weise dem Saal einen „zweischiffigen“ Charakter verleiht, hängt sichtbar in der Mitte durch. Vier große, eiserne, mit bunten Glassteinen verzierte Kronleuch- ter unterstützen das Licht, das von der Ostseite durch die drei großen Fensteröffnungen und das heute verglaste Nordportal in den Raum fällt.

          Bis auf Türsturzhöhe ist der ganze Saal an den Wänden mit Holz vertäfelt. In den Fensternischen, entlang der meterdicken Gewände, sind, auf einer erhöhten Holzstufe, hölzerne Sitzbänke angebracht. Un- ter der Decke, zwischen den ebenfalls ornamental bemalten Konsolen der Querbalken, zieht sich ein Kranz von 54 aufgemalten Wappen von Hansestädten um den gesamten Raum. Der breite Wandstreifen zwi- schen diesen Wappen, die noch jedes für sich durch eine reiche male- rische Dekoration eingefaßt sind, und der Wandvertäfelung ist auf allen Seiten der Halle mit Wandgemälden ausgefüllt, deren allegorische Fi- guren und szenische Darstellungen sich überwiegend auf die alther- gebrachten Funktionen des Rathauses für das Leben der Bürger be- ziehen. Der Boden des Saals ist diagonal mit Fliesen ausgelegt, die ein mehrfarbiges, abstraktes Muster bilden, so daß der flimmernde Effekt der kleinteilig bemalten Decke und Wände noch verstärkt wird – ein Eindruck, wie er sich in historistisch gestalteten Innenräumen nicht selten einstellt. Sowohl an der Decke, als auch auf den Wänden und dem Fußboden dominieren Erdfarben, die sich mit dem unbemalten Holz der Vertäfelung und der Stützpfosten zum Gesamteindruck des Saales vereinigen und auch mit der Einfärbung des Außenbaus korres- pondieren.

          Die Holzeinbauten sowie die Decken- und Wandmalereien stam- men alle aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, der großen Umgestal- tungsphase unter der Leitung des Hannoveraner Professors Hermann Schaper. Tatsächlich aus dem Mittelalter überkommen ist jedoch noch die mittig im Raum, auf der Westseite in die Wand eingelassene Öff- nung, die sog. Fürstenloge, oder aber auch Gerichtsnische. Trotz der reichen, fast überbordenden übrigen Dekoration des Raumes konnte sie doch ihren Charakter als markantestes und eindrücklichstes Aus- stattungsmerkmal des Großen Saals erhalten. Die Nische ist wesent- lich größer und reicher verziert als ihre beiden Entsprechungen außen auf der Rampe, neben den Portalen, ist aber genau wie diese mit einem Segmentbogen überfangen und öffnet sich nicht unmittelbar vom Boden aus, sondern in einer Höhe von hier etwa einem Meter. Auf dieser Höhe ragt noch heute das auf dem Nischenboden angebrachte hölzerne Sitzbrett aus der Flucht der Wand hervor, unterstützt vorn von einer steinernen, sich über die gesamte Nischenlänge erstreckenden Konso- le. Im Mittelalter war der Nische wohl ein Podest mit Stufen vorgestellt, um sie bequem betreten und in „Be-sitz“ nehmen zu können. Es ist allerdings nicht bekannt, ob die Fürsten bzw. die Gerichtsherren unmit- telbar auf dem Sitzbrett, oder aber mit Stühlen darauf saßen.

          Seitlich außerhalb der Nische sind die beiden Enden der Sitz- brettkonsole vergrößert und verziert, die rechte ist mit einer Büste skulptiert. Diese Konsolenenden tragen zwei steinerne Pilaster, die die Nische seitlich begrenzen. Diese Pilaster geben den Anschein von Stützen mit quadratischem Querschnitt, die aber diagonal gestellt sind, also mit einer Kante in den Raum weisen. Sie ragen zu etwas mehr als der Hälfte aus der Wand heraus, bilden also einen fünfeckigen Quer- schnitt wie er entsteht, wenn man von einem Quadrat diagonal etwas weniger als die Hälfte abschneidet. Bis zu der Höhe, in der der Seg- mentbogen der Nische ansetzt (etwas weniger als halbe Raumhöhe), sind die Pilaster aus Stein und ihre Oberflächen glatt; darüber setzen sie sich als hölzerne und mit Schnitzwerk verzierte Fialen bis fast zur Raumdecke fort. Die Seitenpilaster tragen aber zusätzlich einen eben- falls hölzernen, krabbenbesetzten Wimperg, der den Segmentbogen der Nische überfängt und über seinem Scheitelpunkt ebenfalls eine große Spitze aufweist. Diese schließt, wie die beiden Seitenfialen, dicht unter den Querbalkenkonsolen der Hallendecke mit einer geschnitzten Kreuzblume ab. Während die achteckig-pyramidenförmigen Riesen der Seitenfialen an den Kanten ebenfalls krabbenbesetzt sind, ist die Spitze auf dem Wimperg an den Seiten glatt. Sowohl der Wimperg und die Fialen, als auch die steinerne, profilierte Rahmung des Segmentbogens sind farbig gefaßt. Unterhalb der beiden Konsolen der Seitenpilaster sind in der Wand noch heute zwei Haken vorhanden, in denen früher offenbar hölzerne Schranken eingehängt wurden, um die übrigen Betei- ligten und die Zuschauer auf ihre Plätze zu verweisen.

 

 

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