Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
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IV.2. Die Sacristía Mayor (Diego de Riaño, Martín de Gainza, 1530-43)

 

Das 16. Jahrhundert, das Siglo de Oro, sieht Spanien nicht nur, dank der von Sevilla aus betriebenen planmäßigen Ausbeutung der westindischen Kolonien, auf dem Höhepunkt seines Reichtums, sondern auch seiner politischen Machtstellung in Europa. Das Land, das erst wenige Jahrzehnte zuvor aus den beiden wichtigsten iberischen Teilreichen zusammengeschweißt worden war, durch die Heirat von Isabel de Castilla mit Fernando de Aragón, und das unter diesen beiden Katholischen Königen erst 1492 die 800-jährige Herrschaft der Mauren auf der Halbinsel endgültig beendet hatte, rückte mit dem Regierungsantritt Carlos V 1516 unvermittelt ins Zentrum der europäischen Großmachtspolitik. Unter Kaiser Karl V. erlebte das Reich der Habsburger seine größte Ausdehnung und Bedeutung, und Spanien spielte dabei nicht nur die Rolle eines politischen Zentrums, sondern auch des entscheidenden wirtschaftlichen Rückgrats dieses Imperiums.

          Wie aber war ein Habsburger, ein Ausländer also, auf den spanischen Thron gelangt, der sich bis hierher ganz und gar in der unmittelbaren Nachfolge der einstigen Herrscher des iberischen Westgotenreichs begriffen hatte? Zur Erklärung muß die gesamte europäische Politik der Epoche bemüht werden. Schon seit dem 14. Jahrhundert war zwischen den beiden großen Kontinentalmächten, Frankreich und Deutschland, ein Reich wiederauferstanden, das in der Nachfolge Karls des Großen begründet, aber von seinen beiden größeren Nachbarn schon bald aufgesogen und zwischen ihnen aufgeteilt worden war. Gemeint ist das einstige Lotharingen, das Mittelreich, das jetzt sein Haupt in Form einer stark expansiven Politik der Herzöge von Burgund erneut emporhob. Im Verlauf des 15. Jahrhunderts hatte sich Burgund nicht nur aus dem Lehensverband der französischen Krone gelöst, also quasi selbstständig gemacht, sondern durch geschickte Politik große Territorialgebiete unter seine Kontrolle gebracht. Neben der unmittelbar angrenzenden Franche-Comté standen nun auch so entfernte Fürstentümer wie das Herzogtum Luxemburg, die Grafschaften Flandern und Holland, das Herzogtum Brabant und die Picardie unter seiner Herrschaft. Aber die Ambitionen der Herzöge von Burgund gingen noch weiter. Schon standen auch die Bistümer in Lüttich, in Lothringen und dem Elsaß unter burgundischem Protektorat, und das Ziel wurde klar: durch Eingliederung auch dieser Länder sollte die geographische Verbindung zwischen den weit auseinanderliegenden Teilen des burgundischen Reiches geschaffen werden.

          Eine nicht minder expansive Politik aber verfolgten auch die Habsburger, und nach dem Tode Karls des Kühnen, des Burgunderherzogs, heiratete der österreichische Erbherzog (und spätere Deutsche Kaiser) Maximilian 1477 dessen Tochter Maria von Burgund und sicherte sich damit das burgundische Erbe. All dies mißfiel naturgemäß der französischen Krone sehr, die nun ihrerseits daranging, ihren Einfluß in Europa durch Ansprüche auf Italien zu vergrößern, dabei aber wiederum mit den imperialen Interessen Aragóns in Konflikt geriet. Kurz und gut, es bildete sich eine Zweckallianz zwischen Österreich und Spanien, die gegen den gemeinsamen gallischen Widersacher gerichtet war. Diese Allianz wurde nun nicht nur auf dem Papier besiegelt, sondern durch eine doppelte Eheschließung dauerhaft gemacht: der Sohn Maximilians, Philipp von Burgund, heiratete Johanna, die Tochter der Katholischen Könige, während ihr Sohn Don Juan Margarete von Burgund, die Tochter des Erzherzogs, ehelichte. Beide Söhne aber waren schon früh verstorben, und Johanna litt an Wahnsinn. So wurde im Jahre 1516, beim Tode König Ferdinands von Spanien, ihr Sohn Karl, der junge Herzog von Burgund, Thronfolger in Spanien und drei Jahre später, beim Tode Maximilians, seines anderen Großvaters, zugleich deutscher König und Kaiser.

          Der erst neunzehnjährige Monarch vereinigte in seinen Händen also eine Machtfülle, wie sie Europa lange nicht mehr gesehen hatte. Die Idee, die Carlos V den Großteil seines Lebens beschäftigte, wird so erklärlich: Europa unter habsburgischer, also seiner Führung zu vereinen. Aber dieses Projekt scheiterte, überforderte selbst die Kräfte dieses Imperiums, denn Karl mußte buchstäblich an allen Fronten zugleich kämpfen: in regelmäßigen Abständen gegen König Franz I. von Frankreich, im Osten gegen die Türken, die große Teile Ungarns besetzt hielten und Wien belagerten, vor allem aber gegen all diejenigen Interessensgruppen in seinem eigenen Reich, denen eine starken Zentralgewalt des Königs bzw. Kaisers widerstrebte. Insbesondere die deutschen Einzelstaaten setzten alles daran, um ihre weitgehende Unabhängigkeit von der Krone zu behaupten. Als Folge der Reformation erwuchs Karl V. im Bund der protestantischen Fürsten schließlich ein für ihn nicht mehr überwindbarer Widerstand. Der zum Spanier gewordene Carlos V resignierte, übergab die Regierung Stück für Stück an seinen Sohn Philipp und zog sich 1557 ganz in das Kloster San Jerónimo de Yuste zurück, wo er bald darauf verstarb.

          Der Einfluß der aus Norditalien stammenden, dort schon im 15. Jahrhundert zu voller Blüte entwickelten Renaissance-Bauweise auf die spanische Architektur beschränkt sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch ganz auf das Dekorative. Während die den Bauwerken zugrundeliegenden Strukturen weiterhin den spätgotischen Raumkonzeptionen verpflichtet bleiben, kommt in der Gestaltung der Fassaden ein oft reichlich überladener Stil zur Anwendung, der Platero, in dem sich mudejare, spätgotische und Renaissance-Elemente mischen. Das Wissen um die „neuen“, d.h. in Italien wiederentdeckten Raumbildungen der klassischen Antike manifestiert sich in Spanien erst gegen 1520. Nahezu zeitgleich tritt eine neue Generation von Architekten auf den Plan, die eine solide theoretische Kenntnis von den „modernen“ Prinzipien und den aktuellen italienischen Bauten erlangt hat, sei es durch eigene Reisen und Aufenthalte, durch persönlichen Bericht anderer oder aber auch durch die vielen im Umlauf befindlichen Zeichnungen, Drucke und Publikationen. Es liegt Nahe, hierfür einen Zusammenhang mit der Regentschaft Karls zu vermuten, der 1519 die römische Kaiserkrone erlangt hatte und von Spanien aus gesamteuropäische Ambitionen verfolgte. Viele der großen Bauaufgaben der Zeit gehen entweder direkt auf die Initiative des Monarchen zurück, wie etwa der Palast Karls in der Alhambra von Granada oder die Kathedrale dieser Stadt, oder aber sie wurden von Adligen protegiert, die dem Hof nahe oder mit ihm in Verbindung standen. Karl aber, wenn auch insgesamt nicht so sehr an der Architektur interessiert wie sein Sohn und Nachfolger Philipp II., erkannte die symbolische Kraft, die eine klassisch-strenge Bauweise entsprechend der römischen Hoch-Renaissance für sein angestrebtes, paneuropäisches Imperium besaß.

          Etwa um 1520 beginnen also die avantgardistischen Vertreter der neuen Architektengeneration in Spanien, mit dem erlangten theoretischen Wissen zu experimentieren, d.h. selbst nach italienischen Vorbildern zu bauen. Oftmals bleiben dabei aber noch gotische Strukturmerkmale erhalten, Rippengewölbe zum Beispiel, und zwar nicht nur, wie etwa bei der Sacristía de los Cálices der Kathedrale von Sevilla, wenn die bereits von den Vorgängern realisierte Bausubstanz dies beim Weiterbau erzwingt. Um so bemerkenswerter ist die Leistung Diego de Riaños, der die angrenzende und zeitlich darauffolgende Sacristía Mayor in reiner italienischer Formensprache verwirklichte.

          In dem erwähnten Gesamtentwurf Riaños für den Kapitularkomplex im Südosten der Kathedrale von 1530 war für dessen Kernstück, die Sacristía Mayor, dieselbe Länge wie für die Sacristía de los Cálices (einschließlich des Patio de los Óleos) vorgesehen, aber eine doppelte Breite. Die neue, zweite Sakristei sollte nicht mehr, wie die Sacristía de los Cálices, einen längsrechteckigen, sondern einen in etwa quadratischen Grundriß haben, so daß Länge und Breite des Raumes angeglichen waren. Tatsächlich ist die Sacristía Mayor über dem Grundriß eines griechischen Kreuzes errichtet, das allerdings sehr „deformiert“ ist und einem Quadrat nahe kommt: die Arme sind ausgesprochen breit und kurz. So entsteht ein Raumgefüge, das aus einem großen, quadratischen Mittelteil besteht, erweitert um die vier gleichartigen Seitenflügel, die den Raum insgesamt deutlich vergrößern, aber durch ihren Nischencharakter zugleich plastisch strukturieren. Diese Plastizität des Raumes wird durch Halbsäulen noch verstärkt, die den vier an den Ecken in den Raum hineinragenden Nasen jeweils auf beiden Seiten vorgelegt sind.

          Die Ausrichtung des Grundrisses der meisten Kirchenräume weg vom Langbau und hin zum Zentralbau stellt eines der zentralen Merkmale im Übergang von der Gotik zur Renaissance dar. Zwar hatte sich diese Entwicklung schon in der Spätgotik angebahnt, doch erst die Renaissance bringt sie klar zum Durchbruch. Interessant sind die Übergänge und Zwischenstufen, die sich gerade in der baulichen Abfolge der Räume der Kathedrale von Sevilla ablesen lassen. Bedingt durch die Vorgeschichte der frühen, in den Gemäuern der Moschee eingerichteten Kirche trägt schon die gotische Kathedrale viel mehr einen zentralisierten als einen longitudinalen, auf ein Ende des längsrechteckigen Raumes hinziehenden Charakter. Presbyterium und Chor befinden sich nicht, wie in den meisten gotischen Kirchen, am Ostende, sondern ziemlich in der Mitte des Gebäudes. Auch der basilikale, ebenfalls die Gerichtetheit auf ein räumliches Ziel betonende Aspekt ist durch den geringen Höhenunterschied zwischen Mittel- und Seitenschiffen weitgehend abgeschwächt zugunsten eines vielmehr hallenartigen Eindrucks, der alle Raumpartien gleichermaßen berücksichtigt. Dies zweifelsohne als Folge spätgotischer ästhetischer Einflüsse, die dem im Vergleich zu anderen gotischen Kirchen in Europa späten Baubeginn von 1400 entsprechen.

          Die einschiffige Sacristía de los Cálices des Alonso Rodríguez behält zwar noch die Unterteilung des Raumes in Joche bei, gleicht diesen längsgerichteten Effekt aber durch die ungleichen Jochlängen aus. Die kurzen Anfangs- und Endjoche und das demgegenüber quadratische Mitteljoch zentralisieren den Gesamtraum, eine Tendenz, die Riaño durch die Überkuppelung des Mitteljoches folgerichtig noch verstärkt.

          Auch der quadratische Mittelteil der Sacristía Mayor wird vom Architekten mit einer Kuppel überwölbt, nach italienischem Vorbild, und diesmal unter Verzicht auf dekorative Rippenstrukturen. Die neue Hauptsakristei ist aber trotzdem kein reiner Zentralbau. Ihr ist nämlich im Süden, auf der Stirnseite, ein Bereich an den entsprechenden Kreuzarm angehängt, der sich hinter einer dreiteiligen Arkade öffnet und in der Flucht des Patio de los Óleos liegt. Der angehängte Raum – hier handelt es sich also nicht um einen Patio – ist in fünf transversal angeordnete Abschnitte unterteilt, deren mittlere drei den Arkadenöffnungen entsprechen und deren äußere etwas weiter zu den Seiten ausgreifen als die seitlichen Kreuzarme des Hauptraums. Auch die transversale Abfolge dieser Raumteile zeigt einen zentralisierenden Zug: von der Mitte nach außen hin nimmt ihre Breite jeweils kontinuierlich ab.

          Insgesamt ergibt sich also eine Zweiteilung der Sakristei, in einen pseudoquadratischen Hauptraum und einen querrechteckigen Kopfteil, was noch dem alten Langbauschema von Longitudinalraum und an dessen Extremum angehängtem Chor entspricht.

          Der zentrale Hauptraum, in dessen seitliche Kreuzarme im unteren Teil riesige, schwarz lackierte Schrankeinbauten eingestellt sind, wird im Aufriß zunächst von den schon erwähnten Halbsäulenvorlagen bestimmt, die auch den Arkadenpfeilern auf der Stirnseite vorgestellt sind und auf der Eingangsseite im Norden Entsprechungen finden. Während einige von ihnen kanneliert sind (die Kannelüren im unteren Drittel jedoch gefüllt), weisen andere spiralige Rillen auf und wieder andere sind am gesamten Schaft mit Grotesken versehen. Die Säulenvorlagen stehen, genau wie die Seitenwände der Kreuzarme, auf einem übermannshohen, stark verkröpften Sockel. Ein noch auffälligeres Gestaltungsmerkmal aber stellen die großen Trompen in Form von Jakobsmuscheln dar, die den beschriebenen Kreuzgrundriß des Hauptraums bis zur Kämpferhöhe in einen vieleckigen überführen, indem sie die insgesamt acht Ecken der Kreuzarme diagonal abschrägen. Oberhalb davon läuft ein markant ausgeprägtes Gebälk um den ganzen Raum herum, aus dem die Säulenvorlagen noch immer deutlich plastisch hervortreten. Das Gebälk enthält einen auf seiner gesamten Länge mit Reliefs skulptierten Fries und ein weit vorkragendes und wiederum stark verkröpftes Kranzgesims.

          Im Unterschied zu der Hängekuppel der Sacristía de los Cálices experimentiert Riaño jetzt mit der anderen grundlegenden Art von Kuppel, der Pendentifkuppel. Die Pendentifs ruhen auf den vier in den Raum hineinragenden Ecknasen und werden durch Rundbögen gebildet, die sich auf deren Halbsäulenvorlagen abstützen. Die Kreuzarme selbst, die außerhalb des überkuppelten Bereichs liegen, werden von ansteigenden Gewölben überfangen, die sich je zwischen einem inneren, kleineren Rundbogen (von den die Seitenwände gliedernden Pilastern getragen) und dem kuppeltragenden Rundbogen öffnen, in der Art eines Halbkegelausschnitts. Sie sind in Fächer unterteilt, mal längs, mal quer ausgerichtet, in denen jeweils eine große Reliefskulptur Platz findet. Diese Kegelgewölbe umrahmen auf allen vier Seiten je ein ovales, horizontal ausgerichtetes Fenster, das auf der Nordseite allerdings nur vorgeblendet ist.

          Die schon bis hierher auffällig starke skulpturale Ausschmückung des Raumes intensiviert sich noch im Kuppelbereich. Jedes der vier Pendentifs ist mit zwei großen Relieffiguren ausgefüllt, die Kuppel selbst, auf ihren insgesamt drei durch Zwischengesimse gebildeten „Registern“, mit Dutzenden weiteren. Bekrönt wird das Rundgewölbe von einer Laterne, deren oberen Abschluß das Relief des Gottvaters ziert.

          Wie bereits im Patio de los Óleos kommen aber auch in der Sacristía Mayor die in der Renaissance so beliebten kassettierten Gewölbe zum Einsatz. Dies über der tiefen, leicht diagonal in die Wand gebrochenen Türöffnung, ebenso wie in den vier lateralen Abschnitten des im Süden, auf der Stirnseite angefügten Raumteils. Der mittlere Abschnitt jedoch, zentraler Blickfang für den die Sakristei betretenden Besucher, spricht wieder von der Experimentierfreude Diego de Riaños. Er ist „pseudo-oval“ überfangen, von einem Gewölbe, das aus zwei Kalotten und einer zwischengeschalteten Tonne konstituiert wird. Wieder ist es in Fächer unterteilt, so daß ein Kranz von zwölf skulptierten Apostelfiguren das zentrale Relief mit der Himmelfahrt Mariens umgibt.

          Vollendet wurde die Sacristía Mayor, deren ungewöhnlich komplexes, dem Humanismus verpflichtetes ikongraphisches Programm auf einen der damaligen Domherren zurückgeht, aber nicht mehr zu Lebzeiten ihres Schöpfers, Riaño starb 1535. Erst 1543 konnte Martín de Gaínza, sein langjähriger Schüler und Nachfolger als Kathedralbaumeister, die Arbeiten abschließen.

 

 

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