Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
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Platz der Göttinger Sieben

Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen 4v25

Bild: © Roland Salz 2014

III. Topologie: Das neue Gebäude am Forum

 

Die Nordseite des Forums, wie der große Platz des Geisteswissen- schaftlichen Zentrums auch genannt wird, nimmt der zentrale Hörsaal- komplex aus den frühen siebziger Jahren ein. Um eine riesige Halle gruppieren sich in ihm die größten Hörsäle, die die Universität aufzu- bieten hat. Die Fassade zum Platz hin wird von großen, wenn auch verschachtelt angeordneten Sichtbetonflächen bestimmt, mit verglas- ten Bereichen nur an den Eingängen, die sich an den Ecken des Gebäudes befinden. Auch innen dominiert der ungestrichene Beton: Wände, Decken, Säulen, Treppenaufgänge, Emporen, Schrägen, die ganze Halle präsentiert sich im einheitlichen Kleid. Alle Hörsäle sind fensterlos, und auch das große Foyer wird durch ein Sheddach nur mit milchig-trübem Licht versorgt, das kaum bis zum Boden des hohen Raumes vordringt. Insgesamt vermittelt die Halle den Eindruck einer riesigen, kalten Grotte, die kaum zum Verweilen einlädt. Einmal im Jahr jedoch erlebt das Hörsaalgebäude eine Glanzstunde, die weit über die Stadtgrenzen Göttingens hinaus bekannt und berühmt ist: am ersten Samstagabend im Dezember wird die Nikolaus-Party gefeiert. In allen Hörsälen gleichzeitig und je ein halbes Dutzend mal hintereinander wird an diesem Abend der Film Die Feuerzangenbowle mit Heinz Rüh- mann gezeigt. Und die komplett versammelte Göttinger Studenten- schaft begnügt sich dabei natürlich nicht mit dem Zusehen: Dutzende von merkwürdig gekleideten Akteuren, die den Figuren des Filmes frei nachempfunden sind, begleiten dessen Handlung auf dem Podium durch allerhand lebhafte und übertriebene pantomimische Darbietun- gen, die den Stimmungsgehalt der jeweiligen Filmszenen genauso steigern wie die begleitenden Aktionen seitens der Zuschauerschaft: das Abbrennen von Wunderkerzen etwa oder kollektives Galoppieren über die Hörsaalbänke. Aber all das ist nur der erste Streich, zur Ein- stimmung sozusagen. Anschließend geht es im riesigen Hörsaalfoyer erst richtig los, wenn, angeheitert durch reichlich Heidelbeerwein, der in Reagenzgläsern gereicht wird („jäder nur einen wönzigen Schlock“), nach dem Taktstock von Christian Simonis und seinem vollzähligen Göttinger Sinfonieorchester Polonaise getanzt wird – wobei der Diri- gent nicht selten das Orchester einfach sich selbst überläßt, um selbst mittanzen zu können.

          Das Hörsaalgebäude an sich ist aber nur ein Teil eines größeren, durch hallenartige, einseitig verglaste Flure zusammenhängenden Komplexes, zu dem noch das Mensazentrum gehört, mit seinen drei großen Sälen und einem eigenen großen Foyer, sowie der Blaue Turm, das weithin sichtbare Wahrzeichen des GWZ, ein Hochhausbau mit Betonfassade, abgefasten Ecken und strebepfeilerartigen Außenstüt- zen sowie Scheiben, die auch dann noch tiefblau spiegeln, wenn der Himmel längst die graue Farbe des Betons angenommen hat.

          Dieser ganze, nördlich des Forums gelegene Komplex weist eine U-Form auf und bildet in der Mitte einen eigenen Freiplatz, der sich auf der dem Forum gegenüberliegenden Seite des Hörsaalgebäudes befin- det. Die verglasten Seiten der Verbindungshallen weisen auf diesen Innenhof, der allerdings vollständig gepflastert ist und von den Studen- ten bis heute kaum angenommen wird.

          Zentraler Knotenpunkt studentischen Lebens ist dagegen das ebenfalls hohe und offen gestaltete Mensafoyer mit den auf Emporen gelegenen Saalzugängen. Hier verabredet man sich nach absolviertem Vorlesungsprogramm zur Mittagspause, und von hier aus geht es dann, mit gut gefülltem Magen – das Göttinger Mensaessen gilt mit Recht als eines der besten seiner Art in Deutschland –, auf die genau vor dem Eingang beginnende Promenade hinaus, jene mit japanischen Zier- kirschen bestandene Flaniermeile, die als die zentrale Achse des GWZ aus dem beschriebenen Innenhof und dem ganzen Sichtbetonkomplex heraus und südwärts in Richtung zur Altstadt führt. Etwas erhöht verläuft die Promenade an der Westseite des Forums entlang. Rechts des Weges erstrecken sich die beiden kubischen Gebäude des Oeconomicums und des Theologicums, und auf der gegenüberliegen- den Seite des Forums entspricht ihnen im Baustil das Juridicum. Alle drei Bauten haben nur zwei bzw. drei Stockwerke, wirken also flach, dafür aber um so breiter gelagert. Die Fassaden zeigen die für die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts charakteristische Strenge und Schmucklosigkeit. Sie sind stark horizontal strukturiert, die Streifen zwischen den langen, durchgehenden Fensterbändern sind mit hellgrauen Natursteinplatten verkleidet. Nichts verrät in ihrem Äußeren die lauschigen, pflanzenbewachsenen Innenhöfe, die diese Fakultäts- gebäude in sich bergen.

          Das Forum selbst vermittelt, einerseits durch seine beachtlichen Ausmaße von etwa 70 mal 70 Metern, andererseits durch die flachen und gleichförmigen Gebäude an seiner Ost- und Westseite, einen Eindruck von fast amerikanischer Weite. Der Blick kann sich hier entspannen, kann von der immer belebten Promenade abkehren und „in die Ferne schweifen“. Auch ist der Platz gegenüber den umste- henden Gebäuden leicht abgesenkt, was den Eindruck der Raum-„tiefe“ noch verstärkt.

          Die leichte Neigung des Platzes nach Norden, die das Ausbilden großer Pfützen verhindert, wird dort durch Stufen aufgefangen, die das Gelände in flachen, weiten Schritten wieder zum Erdniveau des Hörsaalgebäudes anheben. Die Streifen zwischen diesen Stufen sind mit Gras bewachsen und von großen Platanen bestanden, so daß es sich in diesem, von der Sonne bevorzugten Bereich des Platzes im Sommer gut aushalten und ausruhen läßt. Tatsächlich erfreut sich das abgestufte Drittel des Platzes im Sommer großer Beliebtheit; hier kann jeder seine ruhige oder gesellige Ecke finden, mit einer Tasse Kaffee in der Hand im Skript blättern, die letzte Klausur besprechen oder aber ganz einfach mit geschlossenen Augen das Gesicht nach oben wenden.

          Die Universitätsbibliothek, das neue Gebäude am Forum und dessen gesamte Südseite einnehmend, mag aus dieser Perspektive zuerst eher abweisend wirken. Scheinbar hat sie sich ganz der geometrischen, kubischen Strenge der im Osten und Westen an den Platz grenzenden Fakultätsgebäude angepaßt. Auch die Bibliotheks- fassade ist mit hellgrauen Natursteinplatten verkleidet, durch ihre grö- ßere Breite und Höhe (vier Stockwerke) dominiert sie aber den Platz eindeutig. Obwohl sie also die Aufmerksamkeit auf sich zieht, präsen- tiert sie sich mit wenig zugänglichem Charakter. Lange Reihen von ein- gestanzten Lochfenstern blicken auf den Betrachter herab, der einen Eingang vom Platz her, wie bei den anderen Bauten, vergeblich sucht. Das neue Gebäude, so scheint es, zeigt dem Forum „die kalte Schulter“.

           Fast also könnten wir das Interesse an der Bibliothek schon wieder verlieren. Wäre es nicht doch besser, so könnten wir uns fragen, auf den Stufen unter den Platanen sitzend, auf das für den Nachmittag geplante Bücherstudium zu verzichten und statt dessen an dem glattkantigen, weißen Gebäude vorbei in Richtung zur Altstadt zu schlendern, wo unter schattigen Akazien, gegenüber den warmen,  röt- lichen Sandsteinquadern des Alten Rathauses nicht nur der italieni- sche Eisbecher wartet, sondern vielleicht auch dieser oder jener Freund, diese oder jene Freundin, wo sich also der Nachmittag sicher- lich auch auf angenehme Weise verbringen ließe?

          Zurück auf der Promenade fällt unser Blick, der innerlich schon ganz zur Altstadt hinübergeschwenkt war, auf die große, verglaste Eingangsrotunde der Bibliothek. Und obwohl wir auch schon das grüne, schiefe Rohr erspäht haben, das sich, den Park vor der Südwestseite der Bibliothek überragend, so verlockend und bestätigend der von Patina überzogenen Haube des Turms von St. Jacobi zuneigt, besinnen wir uns doch eines anderen. Auch hier, in einem der vier Café-Etagen der Rotunde ließe sich doch ein Eis essen; auch hier, in der großen, weißen Eingangshalle würde man den einen oder anderen Bekannten treffen, der ebenfalls noch lernen muß; und auch hier, in irgendeinem Teil des weitverzweigten Lesesaals könnte man die Sonne genießen – und ganz nebenbei die notwendige Arbeit tun.

 

 

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