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                                          Meditationen über Topographie und Geschichte

Gänselieselbrunnen vor dem Alten Rathaus, Göttingen

I.6. Das Gänseliesel

Gänselieselbrunnen Göttingen

Bild: © Roland Salz 2014

Vielleicht hatten die Göttinger Bürger des späten 19. Jahrhunderts, müde des martialischen Anblicks ihres mittelalterlichen Rathauses, diesem ein Gegengewicht schaffen wollen, als sie 1898 beschlossen, auf dem Marktplatz einen gußeisernen Brunnen mit der Skulptur des Gänseliesels zu errichten. Bald schon galt nicht mehr das monströse Ratsgebäude, sondern diese unscheinbare, kaum lebensgroße Figur des Mädchens, das, den Blick zu Boden gesenkt, einige wasserspei- ende Gänse in Händen, Arm und Korb trägt, als das Wahrzeichen der Stadt. Und waren es im frühen 20. Jahrhundert die frisch imma- trikulierten Studenten, die sich angewöhnten, den Überbau des Brun- nens zu erklettern, um die liebreizende Skulptur zu küssen – eine Praxis, die auch durch ein von der Stadt erlassenes „Kußverbot“ für das Gänseliesel nicht nachließ –, so sind es heute die Doktoranden, die sich nach bestandener Prüfung regelmäßig zu dieser Tat aufmachen.

          Dem fremden Stadtbesucher mögen jene an manchen sommer- lichen Werktagnachmittagen stattfindenden Prozessionen durch die Göttinger Innenstadt, dem Verlauf der Weender Straße vom Campus der Georg-August Universität in Richtung zum Marktplatz folgend, et- was merkwürdig anmuten. Kleinere oder größere Gruppen von ange- heiterten jungen Leuten, oft schon mit dem Sektglas in der Hand, ziehen die oft prächtig geschmückten Bollerwagen, in denen, einge- klemmt zwischen weiteren alkoholischen Getränkeflaschen und reichli- cher Picknickverpflegung, nicht etwa ein paar Kleinkinder sitzen, wie man es an den Maifeiertagen oder zu Himmelfahrt oft im Grünen beobachten kann, sondern, auf imposanten Stühlen, jeweils ein er- wachsener Mensch, den sein übergroßer schwarzer, zylinderförmiger Hut mit der viereckigen Platte obenauf noch sichtlich etwas verlegen macht. Überhaupt scheinen die Gesichter der Gezogenen, die nicht so recht wissen, ob ihnen in dieser Zeremonie eigentlich Lob und Anerkennung oder eher Schadenfreude und Spott entgegenschlagen, in der Hauptsache von einem Gefühl der Bangigkeit erfüllt, wissen sie doch, daß Ihnen der gefährlichste Teil der Prüfung noch bevorsteht. Auch die Blumensträuße, die sie in den Händen halten, scheinen weniger für sie selbst bestimmt zu sein, als für einen Zweck, den der Stadtunkundige nicht sofort errät.

          Eine nach der anderen der Gruppen gelangt mit ihrem Wägel- chen auf dem Marktplatz an und hält vor dem Brunnen. Etwas unwillig steigt der Mensch mit dem großen Hut aus, aber schon von den Kommilitonen unter großem Gelächter angefeuert. Üben konnte der Absolvent das, was nun kommt, nicht. Es muß improvisiert werden, genau wie in der Doktorprüfung, auf deren Fragen man nicht vorbereitet ist. Da ist zum einen der Brunnenrand, der zuerst erklommen werden muß. Es passiert zuweilen schon bei diesem Manöver, daß der große Hut zu Wasser geht, noch häufiger naturgemäß bei jenem langen Schritt, der nötig ist, um das Brunnenbecken hin zu der in seiner Mitte aufgestellten Skulptur zu überschreiten. Vom ständig aus den Schnä- beln der Gänse strömenden Wasser ist das Mittelpodest, auf dem die Skulptur unter einem großen, gußeisernen Baldachin steht, glitschig, und so kommt es vor, daß im Wasser mehr als nur der Hut landet. Durch den Blumenstrauß, den der Doktorand in der Hand hält, ist seine Fähigkeit, rechtzeitig eine der Stangen des Baldachins zu ergreifen, um sich auf die rettende Brunneninsel zu ziehen, zusätzlich behindert. Nach dem obligaten Kuß blickt daher so mancher Absolvent, das Gänseliesel umarmend, im nassen Anzug und mit gemischten Gefühlen in die allseits bereitgehaltenen Kameras. Aber es wäre nicht ein echter Göttinger Doktorand, wenn er nicht auch in dieser Situation einen Rest von Humor bewahrt hätte: „Die Leute sind alle so freundlich heute. Die lachen alle.“

 

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Gänseliesel Göttingen

Bild: © Roland Salz 2014

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