Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

X. Der Chor

 

Der gegenüber dem Langhaus um zwei Stufen erhöhte, weite Chorraum ist nicht wie jenes mit kleinteiligem Parkett, sondern mit Rotsandsteinplatten ausgelegt, was ihm etwas mehr von seiner gotischen Ursprünglichkeit beläßt. Sein Gewölbe jedoch ist, wie wir gesehen hatten, durch das Einstellen von zwei Freipfeilern im 19. Jahrhundert stark verändert worden, zusätzlich zur Stutzung um drei Meter im Barock. Während das zweite Chorjoch im 19. Jahrhundert relativ originalgetreu wiederhergestellt wurde, hat sich die Gewölbestruktur des ersten Chorjoches und des 5/8-Chorschlusses durch die beiden frei stehenden Pfeiler völlig gewandelt. Die beiden Freipfeiler, die so gestellt sind, daß sie die Längsseiten des Chorschlusses in zwei gleiche, die Gesamtbreite des Chors in drei gleiche Abschnitte zerlegen, bilden jetzt die beiden östlichen Eckpunkte für einen 5/8-Schluß, der in das 1. Chorjoch vorverlegt wurde! Der ursprüngliche Gurtbogen zwischen dem ersten Chorjoch und dem Chorschluß wurde also entfernt und durch drei Arkadenbögen ersetzt, die die Freipfeiler untereinander und mit den westlich von ihnen stehenden Wanddiensten verbinden. Zwei zusätzliche Rippen wurden von den Freipfeilern zum Schlußstein des ersten Chorjoches eingezogen.

          Auf alten Fotos des neogotischen Chorraums ist der Grund für diese Umgestaltung zu erkennen: der Chor war auf der Höhe der Freipfeiler und der sie mit den Außenwänden verbinden Arkadenbögen, also entsprechend den Grenzen des neuen, vorverlegten 5/8-Chorschlusses durch hohe Holzwände abgetrennt - hinter denen sich jetzt die Sakristei befand. Denn die früher auf der Nordseite der Choraußenmauern gelegene, alte gotische Sakristei war, wie wir gesehen hatten, seit der Barockzeit nicht mehr vorhanden. Bei der Neugestaltung des Chorraums in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts, im Zuge derer die gesamte neogotische Ausstattung, einschließlich der Trennwände, entfernt wurde, mußte daher erneut eine Sakristei im Norden der Choraußenmauern angelegt werden. Man entschloß sich, dem Stilgefühl der Zeit entsprechend, zu einem einstöckigen Flachdachanbau, der zum gotischen Außenbau von der Kirche nur insoweit einen Bezug hat, als für ihn ebenfalls roter Sandstein verwendet wurde.

          Hinter den nun wirklich frei stehenden neogotischen Pfeilern öffnet sich heute ein Umgang, der aber nur sehr entfernt mit einem klassischen Chorumgang verwandt ist. Zwischen den Freipfeilern und den sechs alten Wanddiensten des 5/8-Chorschlusses sind sechs Arkadenbögen geschlagen, die insgesamt fünf Gewölbefelder definieren. Das mittlere ist rechteckig (längsoblong), fast quadratisch, und trägt ein Kreuzgewölbe. Die vier äußeren Gewölbefelder bilden Dreiecke, und zu ihren Schlußsteinen laufen jeweils drei Rippen. Insgesamt eine interessante Konstruktion also, wenn sie auch sicherlich nichts mit dem ehemaligen Zustand des Chors aus dem 14. Jahrhundert zu tun hat. Damals ruhte das gesamte Gewölbe nur auf den Rundstab-Wanddiensten, die Kapitelle ähnlich denen der Langhauspfeiler haben und bis heute erhalten sind (sie wurden mit der Tieferlegung des Gewölbes lediglich ebenfalls etwas tiefer gesetzt).

 Der Altar mit dem dahinterstehenden Kreuz, die Kanzel und der Taufstein zeigen, daß man auch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts Ausstattungsstücke schaffen konnte, die sich in eine gotische Kirche aus dem 14. Jahrhundert harmonisch einfügen. Der Altar besteht aus einen schlichten, großen Betonblock (Blockaltar). Er steht, mit seinem etwas zurückspringenden Sockel, auf einem kreisrunden Podest aus Rotsandstein. Auf dem Podest liegt ein schlichter Flickenteppich, auf dem der Pfarrer vor dem Altar steht, der Gemeinde den Rücken zugewandt. Der Altarblock strahlt eine Unzerstörbarkeit und Ewigkeit des Materials aus, wie der gotische Kirchenbau sie für das Himmelsreich proklamierte. Protestantische Schlichtheit korrespondiert mit gotischer Mystik. Der Altar wurde, wie auch das zugehörige Kruzifix, 1966 von Heinz Heiber aus Nürnberg entworfen und geschaffen.

          Bei genauerer Betrachtung handelt es sich bei dem Kreuz aber gar nicht um ein Kruzifix: zeigt es doch gar nicht den gekreuzigten, an den Nägeln hängenden, leidenden, mit gesenktem Kopf in Qualen sterbenden Christus. Nein, die auf moderne Weise stark abstrahierte Gestalt, die da im matten Messingglanz vor dem rostfarbenen Stahlkreuz schwebt, hält ihre beiden Hände mit dem Segensgruß in die Höhe: sie sind frei! Entgegen der üblichen Gewohnheit zeigt diese Darstellung Christus als Sieger. Und konsequenter Weise ist auch bei ihm, wie bei den anderen heiligen Märtyrern, das Folterwerkzeug zur eigenen Waffe geworden. Die Figur des Auferstandenen wird von stählernen Fingern gehalten, die wie Hände aus den Armen des Kreuzbalkens hervorgewachsen zu sein scheinen. Verwachsen scheint Jesus mit dem Kreuz zu sein, an dem er gestorben ist; aber er lebt, neu, und ewig, mit den Wundmalen in den geöffneten Händen, mit denen er jetzt segnet. Und das riesenhafte Kreuz ist zum Instrument dessen geworden, der an ihm gelitten hat, zu einer Art auf den Rücken geschnalltem Hubschrauber, der es dem Heiland ermöglicht, abzuheben und um die ganze Welt zu fliegen, so, wie es das Christentum mit diesem Kreuz seit 2000 Jahren getan hat.

 

 

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