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Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

IV. Ins Detail: der Westbau als Basis des Göttinger Türmers

 

Die Johanniskirche ist die älteste der Göttinger Pfarrkirchen, die größte und durch ihre Nähe zum Marktplatz und als die eigentliche Göttinger Marktkirche auch die bedeutendste. Der gotische Neubau ist Ausdruck der im 14. Jahrhundert wirtschaftlich und politisch stark emporstrebenden und 1352 sogar der Hanse beigetretenen Stadt Göttingen. Im Stadtbild macht sie sich besonders durch die beiden markanten ungleichen Türme bemerkbar. Zwar ist der Turm der Jacobikirche deutlich höher, doch richtete sich der Göttinger Stadtwächter im Nordturm von St.Johannis ein, der im Mittelalter der Stadt zu diesem Zwecke gehörte und etwas höher als der Südturm ist. Noch heute ist die alte Türmerwohnung erhalten, mit dem überdachten und von einem hölzernen Geländer begrenzten offenen Rundgang. Seit Jahrzehnten wird sie nun von jeweils zwei Studenten bewohnt, hat Licht und fließend Wasser. Erreicht werden kann sie - jeden Samstag nachmittag auch für Besucher - über einen schmalen, der Langhauswand vorgelagerten Spindeltreppenturm an der Nordseite der Kirche. Von hier aus geht es, auf Traufenhöhe des Langhauses, ins Innere des Turmunterbaus und dann in den Nordturm bis ganz nach oben.

          Am Westbau von St.Johannis fällt der Gegensatz auf zwischen dem riesigen, fast völlig ungestalteten und frühzeitlich anmutenden Turmunterbau aus Kalkbruchstein und den sich darauf erhebenden, formenreich gestalteten beiden Türmen aus rotem Sandstein, mit dem zwischen ihnen plazierten, mit kunstvollem Maßwerk verzierten Glockenhaus. Bis über die Trauflinie des Langhaussatteldaches hinaus ist der Westbau völlig fensterlos und so gut wie unornamentiert. Einziger Schmuck in den unteren Bruchsteinwänden ist das Westportal mit dem hohen Wimperg und ein umlaufendes Kaffgesims etwas oberhalb der Kämpferlinie. Ein stückweit unterhalb der Trauflinie des Langhaussatteldaches dann die schon erwähnten drei funktionslosen Wasserspeier, als schlichte, aus dem Mauerwerk vorstehende Rinnen. Oberhalb der Trauflinie folgt die schon erwähnte Reihe von vier Fenstern in der Westwand des Westbaus, mit Sohlbänken aus Kalkstein und Einfassungen aus rotem Sandstein. Diese Fenster erfüllen lediglich einen dekorativen, keine praktischen Zweck. Die einbahnigen Öffnungen sind klein und schmal und gehen oben jeweils in eine Dreiblatt-Maßwerkform über. Die Sandsteingewände sind breit, spitzbogig und haben ein dreiteiliges Profil: außen gekehlt, dann einfach abgetreppt und innen plan abgeschrägt.

          An den Ecken des Westbaus verdrängen auf der Höhe der Sohlbänke, wie wir gesehen haben, große rote Sandsteinquader die beigen Kalksteinquader. Etwa fünf Meter über den Scheitelpunkten der Fenster folgt ein weiteres Kaffgesims, das um den gesamten Westbau herumläuft. Die beiden Kaffgesimse des Turmunterbaus markieren also ein einziges Geschoß von ca. 30 Metern Höhe. Die Schmalseiten im Norden und Süden dieses Westbaugeschosses verbleiben völlig ungegliedert.

          Der Turmunterbau ist aber damit immer noch nicht abgeschlossen. Es folgt ein weiteres Geschoß in Kalkbruchstein von etwa acht Metern Höhe, mit vier weiteren, ähnlich gearbeiteten, jetzt aber deutlich längeren Schmuckfenstern in den Achsen der unteren Fensterreihe. Dieses Geschoß leitet schon zu den Turmaufsätzen über, indem seine oberen Ecken dachartig nach unten abgeschrägt sind. An den Schmalseiten sind die so entstehenden diagonalen Kanten nach oben, über die Höhe dieses Zwischengeschosses hinaus verlängert, bis sie sich mittig treffen, und zwar genau auf Firsthöhe des Langhaussatteldaches; damit nimmt dieses Geschoß an den Schmalseiten die Form eines Dreiecksgiebels mit Kniestock an. Auf der Westseite dagegen erscheint es wie der Giebel eines Hauses mit Krüppelwalmdach.

          Die abgeschrägten oberen Ecken vermitteln den rechteckigen Turmunterbau elegant mit den beiden achteckigen Türmen an seinen seitlichen Enden, bilden sie doch für diese die Trompen. Und in jetzt echt gotischer Manier wird diese Vermittlung durch vier schwere, mittig auf den Eckschrägen plazierte Fialen verschleiert; auf der Südseite sind diese großen Fialen noch zusätzlich von jeweils drei kleineren Trabanten umgeben, deren vorderer - in statisch eindrucksvoller Weise - auf der untersten Spitze der schrägen Dreiecksfläche sitzt, ja fast schon neben dem Gebäude zu schweben scheint.

          Es ist aber bisher nicht geklärt, ob diese Fialen wirklich auf die Zeit der Gotik zurückgehen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einige Jahrzehnte vor den von C.W.Hase geleiteten Umbauarbeiten, wurden bereits die Türme und das Glockenhaus von St.Johannis neogotisch umgestaltet. Dokumentiert ist diese Bauphase nicht. Deutlich ist aber auf älteren Abbildungen der Marktkirche zu erkennen, daß das Glockenhaus davor ganz anders aussah als heute.

 

 

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