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Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

II. Rückblick: die drei romanischen Vorgängerkirchen

 

Bei der heutigen gotischen Marktkirche handelt es sich um einen fast vollständigen Neubau aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die Johannes dem Täufer geweihte Kirche hatte mehrere romanische Vorgängerbauten, über die aber urkundlich so gut wie nichts überliefert ist. In Lage und Ausrichtung stimmten sie mit dem heutigen Bau überein, wie Grabungsfunde ergeben haben. Insgesamt lassen sich drei romanische Vorgänerkirchen unterscheiden, die aber alle untereinander und mit dem gotischen Bau durch gemeinsame, also in den jeweils späteren Phasen übernommene Bauteile in Verbindung stehen.

          Die bereits Ende des 19. Jahrhunderts ergrabenen Fundamente einer romanischen Hauptapsis, die innerhalb der Außenmauern des heutigen Chors liegen, können dem ersten der Vorgängerbauten von St.Johannis zugeordnet werden. Dies deshalb, weil Teile der heutigen Chorwände noch aus der zweiten Bauphase stammen, wie wir gleich sehen werden. Hier erkennen wir die im Mittelalter üblichen Verfahrensweise, die Mauern von Kirchenneubauten um die alten, noch bestehenden Mauern herum aufzubauen, damit der Gottesdienst während der oft langdauernden Bauzeit weitergeführt werden konnte. Erst nach Fertigstellung des ummantelnden Neubaus wurden die alten Mauern im Inneren vorsichtig eingerissen.

          Wahrscheinlich stammen auch die unteren Partien des heutigen Westbaus (bis zum Kaffgesims), mindestens auf der nördlichen Seite, noch vom ersten Bauwerk, denn die Analyse der Technik der Steinbearbeitung und Mauerung (vor allem die relativ kleinen Steinformate, die sorgfältige Bearbeitung sowie die Versatztechnik mit gegenläufigen Diagonalen) läßt diese Teile - durch entsprechenden Vergleich mit anderen, zeitlich eindeutig bestimmbaren Kirchen, vor allem aus dem Rheinland - auf die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts datieren. Dieser Zeitraum fällt zusammen mit der ersten Besiedlung des Göttinger Marktviertels, der Keimzelle der späteren Stadt. Und dieser Zeitraum deckt sich auch mit der (allerdings nicht nachprüfbaren) Mitteilung in einer Stadtchronik aus dem 16. Jahrhundert, von Franciscus Lubecus (Franz Lübeck) verfaßt, von 1565 bis 1575 Kaplan von St.Johannis, der zufolge St.Johannis im Jahre 1119 durch den Sachsenherzog und späteren Kaiser Lothar als erste Kirche des Marktortes Göttingen gegründet worden sein soll; angeblich soll er vor der Schlacht gegen Heinrich V., im Jahre 1115 am Welfesholze bei Eisenach, gelobt haben, im Falle seines Sieges diese Kirche zu erbauen.

          Zwischen den heutigen Langhauspfeilern wurden (ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts) in gleicher Flucht Fundamente von früheren zusätzlichen Mittelschiff-Pfeilern freigelegt, die in ihrer Art auf einen typisch romanischen Stützenwechsel schließen lassen. Der Chor von St.Johannis ist bis heute breiter als das Mittelschiff des Langhauses, was, wie wir noch sehen werden, einen unschönen Raumeffekt mit sich bringt. Wenn aber die Chorverbreiterung (aus den oben beschriebenen Gründen) bereits in der zweiten Bauphase erfolgte, müssen die Fundamente der Langhauspfeiler noch aus der ersten Phase stammen. In der zweiten Bauphase hätte man sie sicherlich in der Flucht der neuen Choraußenmauern angelegt. Die relativ schmale Hauptapsis in Relation zum breiten Westbau deutet außerdem darauf hin, daß es sich schon bei der ersten romanischen Kirche um eine dreischiffige Pfeilerbasilika handelte.

          Vom zweiten romanischen Vorgängerbau, der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden sein dürfte, sind neben weiteren Teilen des Turmunterbaus (vermutlich bis etwa zur Höhe der KalksteinSohlbänke der unteren Fensterreihe des Westbaus) noch aufgehende Mauerpartien in Chor und Langhaus vorhanden, und zwar Teile der heutigen nördlichen Chorwand und der Ostwand des nördlichen Seitenschiffes. Diese Mauerpartien waren nach dem gotischen Neubau durch eine nördlich an den Chor angebaute zweistöckige Sakristei verdeckt und wurden aus diesem Grunde wohl damals stehengelassen. Nach dem Abriß der gotischen Sakristei im 18. Jahrhundert sind die alten Partien deutlich zu erkennen, als beiges Kalkbruchsteinmauerwerk in dem ansonsten roten Sandsteinquadermauerwerk des gotischen Neubaus. In der alten Kalkbruchsteinmauer ist auch noch ein einfaches, in Kalkstein ausgeführtes Fenstergewände dieses zweiten romanischen Baus zu sehen. Die Zuordnung zum zweiten Bau ergibt sich daraus, daß in der dritten Bauphase für Fenstereinfassungen und Eckverquaderung bereits nicht mehr Kalkstein, sondern roter Sandstein verwendet wurde.

          Der dritte romanische Vorgängerbau fällt in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts, liegt also immer noch vor der Zeitpunkt des Baubeginns des heutigen Alten Rathauses (um 1270). In der Lübeckschen Chronik wird eine Stiftung des Conradus Rave (gestorben 1236) "Zum Gebau St.Johanniskirchen" erwähnt. Für das Mauerwerk wird jetzt (außer am Westbau) nur noch roter Sandstein verwendet. Aus dieser Bauphase sind bis heute die unteren Partien der Langhauswände bis zur Höhe des Kaffgesims erhalten, was sich unter anderem aus der nahtlosen Einbindung des dieser Bauphase eindeutig zuzuordnenden Nordportals ergibt, auf das wir gleich noch zu sprechen kommen. Außerdem aus der dritten Bauphase stammen aller Vermutung nach die beiden Fenstergeschosse des Westbaus (Turmunterbau). Neu ist hier die Benutzung von Einfassungen und Eckquadern aus rotem Sandstein, was zu dem typischen Farbkontrast mit dem hellbeigen Kalkbruchsteinmauerwerk führt, den wir auch am wenig später begonnen Alten Rathaus beobachten können. Der Übergang von Kalkstein- zu Sandsteineinfassungen und -eckquadern ist am Westbau deutlich zu erkennen, er liegt auf der Höhe der Sohlbänke der unteren Fensterreihe. Während die Sohlbänke dieser Fenster noch aus Kalkstein gefertigt sind, bestehen ihre seitlichen Einfassungen bereits aus Sandstein. Daß der Westbau auf dieser Höhe erst nach einem größeren zeitlichen Zwischenraum aufgestockt wurde, ist sinnfällig an den drei Wasserspeiern abzulesen, die etwa fünf Meter unterhalb der unteren Fensterreihe aus der Westwand des Westbaus ragen und heute völlig ohne Funktion sind. Offensichtlich gehören sie noch der zweiten romanischen Bauphase zu.

          Aus der dritten Bauphase stammen ferner Teile des unteren heutigen Westportalgewändes, etwa bis zur Kämpferhöhe. Vor allem aber das bemerkenswerte, weil vollständig erhaltene Nordportal von St.Johannis, das einzige nennenswerte romanische Zeugnis in Göttingen. Es wird kunstgeschichtlich auf etwa 1245 datiert. Beide Portale werden wir später noch ausführlicher betrachten.

 

 

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