Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                                                     Erzählung

I.

 

Kapitel 1

 

Philipp Hülsmann rutschte auf seinem Stuhl hin und her, aber es gab kein Entkommen. Weder der Hitze noch der Bedrängnis. Massig und schwer hatte sich der Oberschenkel seiner Nachbarin auf seine eigene Sitzfläche vorgeschoben und nahm nun, unverrückbar daliegend wie ein Baumstamm, gut ein Drittel des eigentlich ihm zustehenden Platzes ein. Er hatte sie vorwurfsvoll von der Seite angesehen, während sie sich bedächtig auf ihren Stuhl niederließ – das heißt auf ihren eigenen und je ein Drittel der beiden unmittelbar zu ihrer Rechten und Linken aufgestellten –, aber sie strahlte eine solche innere Ruhe und Zufriedenheit aus, hatte, um Verzeihung bittend, seinen Blick auf so herzliche Weise erwidert, daß Hülsmann nichts übriggeblieben war, als sich wortlos wieder von ihr abzuwenden. Das war doch eine Zumutung! Er dachte an den teuren Eintrittspreis von acht Euro für diese Veranstaltung und versuchte auszurechnen, wieviel davon ihm die Dicke zur Linken nun stahl. Ein Drittel von acht, das waren ... Umgekehrt, ihm selbst verblieben nur noch zwei Drittel von den acht Euro, die er gezahlt hatte, also ... Oder andersherum betrachtet, diese Dicke, die eigentlich auch nur acht Euro gezahlt hatte, besetzte hier – ohne zu fragen – acht Euro und zwei weitere Drittel davon, also etwa ... Aber die Hitze in dem engen, stickigen Raum mit den sorgfältig geschlossenen Fenstern machte es ihm unmöglich, den so unerwartet und ungerecht erlittenen Verlust genauer zu beziffern.

     Wo bloß dieser Zen-Meister blieb. Hülsmann sah auf die Uhr. Er hatte immer gedacht, daß in den japanischen Zen-Klöstern alles bis auf die Minute genau geregelt war, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, und daß gerade dort eine ausnahmslose Pünktlichkeit regierte. Aber dieser Meister, für dessen Vortrag er acht Euro gezahlt hatte, viel zu viel angesichts eines derart eingeschränkten Sitzplatzes, ließ auf sich warten.

     Hülsmann wollte sich, um Bestätigung seiner Gedanken zu erlangen, an Annika wenden, die zu seiner Rechten saß. Aber die hielt die Augen geschlossen und kämpfte offenbar ebenfalls mit der Hitze. Denn auf ihrer Stirn hatte sich ein Teppich kleinster Schweißperlen gebildet, die den unheilvollen Eindruck erweckten, sich jeden Moment zu größeren vereinigen und damit unverzüglich dem Gesetz der Schwerkraft anheimfallen zu wollen. Er wußte, wie sehr sie es haßte, in der Öffentlichkeit in Schweiß auszubrechen, und so beschloß er, sie in Ruhe zu lassen. Statt dessen betrachtete er den jungen Mann, der auf ihrer anderen Seite Platz genommen hatte, so unauffällig und lautlos, daß Hülsmann ihn erst jetzt bemerkte. Er war schwarz gekleidet wie Hülsmann selbst, und doch schien es nicht das Schwarz der Architekten zu sein. Der Glanz eines edlen Seidenhemds etwa, wie er Hülsmann umgab, ließ sich bei ihm ebenso vermissen wie das Etikett mit dem sündhaft teuren Markennamen. Hülsmann überlegte. Bildender Künstler? Regisseur? Geistlicher? Schornsteinfegermeister? Nichts von all dem wollte passen. Annikas Nachbar hatte die Lider wie sie gesenkt, den Kopf aber hielt er so aufrecht und den Rücken, den er nicht anlehnte, so gerade, daß er wohl ein schweres Buch auf seiner Schädelkuppe hätte balancieren können, würde man ein solches dort plaziert haben. Das Merkwürdigste aber waren seine Hände. Die hatte er übereinander in den Schoß gelegt, mit den Handflächen nach oben weisend, die Linke auf der Rechten, so daß sich die Daumenspitzen leicht berührten. Obwohl Hülsmann diese Haltung als recht unnatürlich empfand, wirkte der junge Mann nicht angespannt. Im Gegenteil, Hülsmann beobachtete, wie sich seine Bauchdecke ganz langsam weitete und in einer noch langsameren Bewegung wieder zusammenzog, so unendlich langsam und gleichmäßig in der Tat, daß Hülsmann nicht die Geduld aufbrachte, abzuwarten und zuzusehen, bis sie den unteren Ruhepunkt wieder gänzlich erreicht hatte.

     Sein Blick wanderte zurück zu Annikas blasser Stirn, auf der sich immer neue kleinste und kleine Schweißperlen bildeten, und er hörte sie unmerklich seufzen. Ganz dem Positiven Denken verpflichtet, das sie auch ihm nahezulegen versuchte, bemühte sie sich wahrscheinlich in diesem Moment, einen kühlen Wind am Nordseestrand zu visualisieren und das erfrischende Bad im noch eiskalten Meerwasser. Aber der Fall war nicht leicht, und so kam ihre Vorstellungskraft nicht über einen Schirokko am Strand von Lanzarote hinaus oder die lauen Fluten Antibes im August.

     Wieder sah Hülsmann auf die Armbanduhr. Zehn nach. Noch immer strömten weitere Besucher in den schmalen, langen, schon jetzt überfüllten Raum und suchten nach freien Plätzen, wo es keine mehr gab. Einige setzten sich jetzt auf die Fensterbänke, auf Heizkörper oder sogar einfach auf eine Stufe. Die ältere Dame vor ihm begann, sich mit dem Programmzettel Luft zuzufächeln, wobei sie Schwaden eines intensiven, wenn auch wenig verlockenden Parfums nach hinten, zu Hülsmann trieb. Der hatte plötzlich die Idee, das linke Bein über das rechte zu schlagen, in der Hoffnung, auf diese Weise etwas weniger beengt zu sitzen. Aber die Stuhlreihen standen so dicht hintereinander, daß er das Knie nicht an der Rückenlehne der nun immer heftiger fächelnden, eindeutig zu stark parfümierten Dame vorbeibekam. Schließlich, als ihm alles zu bunt wurde, zog er das Knie mit Gewalt vorbei und versetzte dadurch der Dame einen Stoß in den Rücken, der sie augenblicklich zur Einstellung ihres Gefächels bewog. Im selben Moment jedoch, da sich Hülsmanns linkes Bein hob, quoll der Oberschenkel seiner Nachbarin – wie Wasser, dem man eine Barriere nimmt – um genau das Ausmaß nach, das er selbst freigegeben hatte.

     Wenn wenigstens ein Fenster geöffnet wäre! Aber nicht nur blieben sie alle geschlossen, wahrscheinlich wegen des Straßen- und Baulärms, der sonst ungehindert von zwei Seiten zugleich in den auf der Gebäudeecke gelegenen Raum gedrungen wäre und jedes Gespräch, geschweige denn den Vortrag eines Meisters des japanischen Zen, unmöglich gemacht hätte, sondern sie waren auch noch verhangen. Abgewetzte, schäbige Rollos in der typischen Farbe von jahrzehntelang vergilbtem Zeichenpapier dunkelten das Blau des Himmels ab, tauchten den Raum in ein trübes, graubraunes Dämmerlicht, in dem man die Hitze nur um so drückender empfand.

     Als sich endlich eine Tür in der Seitenwand auftat, lautlos und abgemessen, blickte alles in die Richtung, aus der man das Kommen des Meisters vermuten durfte. Hülsmann sah auf seinen Programmzettel. Nein, das konnte er nicht sein. Zen-Meister Otto Blume, Nyojo Zenji Roshi, wie er auf japanisch hieß, hatte einen dicken, fast haarlosen Schädel und war untersetzt bis korpulent, wenn man der Abbildung glaubte, die den etwa Sechzigjährigen mit einem breiten Lachen und zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen zeigte. Statt dessen betraten drei jüngere, anmutig blondhaarige Frauen den Saal, alle schlank und in schwarze Kimonos gekleidet, und gingen, nein schritten in perfekter Linie hintereinanderher in Richtung zum Podium. Alle hielten sie beim Gehen die Hände vor der Brust, mit den Handflächen gegeneinandergepreßt, nur die letzte nahm sie kurz auseinander, um die Seitentür, durch die die drei erschienen waren, lautlos wieder zu schließen. Den Blick hatten sie alle auf ihre schräg nach oben weisenden Fingerspitzen geheftet, so als nähmen sie weder voneinander noch von dem Publikum Notiz, das sie verwundert anstarrte und jede ihrer Bewegungen gebannt verfolgte.

     Auf dem Podium angekommen, stellten sich die drei blonden, engelgleichen und schwarzgekleideten Erscheinungen in der Weise eines Dreiecks auf, in dessen Zentrum, auf einer kastenförmigen Erhebung, ein breites, schwarzes Kissen lag. Einen Moment lang blieben sie reglos stehen, um sich zu sammeln, dann verbeugten sie sich alle gleichzeitig gegeneinander, leicht und entspannt, wobei sie die Hände nicht auseinandernahmen. Nun wandten sie sich dem Publikum zu, dem sie mit einer deutlich tiefer hinuntergeneigten Bewegung huldigten, bevor sie zum Schluß, wiederum in perfekter Harmonie, diesmal die Köpfe ganz bis nach unten geführt, so daß die Fingerspitzen fast die Knie berührten, ihre Ehrfurcht dem flachen Kasten erwiesen, mit dem breiten, schwarzen Kissen obenauf.

     Genauso wie der König, die Königin, der Prinz oder Herzog in einer Tragödie Shakespeares niemals als erster die Bühne betritt, sondern von Dienstboten, Herolden oder Kammerzofen angekündigt wird, deren belangloses, sich in Nichtigkeiten erschöpfendes Geschwätz der Zuschauer eine Zeit lang erdulden muß, bevor er den tragischen Helden oder Mörder erblicken darf, so schien auch der Zen-Meister nicht willens, ohne die zeremonielle Einleitung vor das Publikum zu treten, die eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen und genügend Spannung auf sein Erscheinen erzeugen mußte. Jedenfalls entfalteten die jungen Frauen nach den drei Verbeugungen ein Ritual, das den katholischen Meßdienern einer Bischofskirche zur Ehre gereicht hätte. Eine Kerze wurde entzündet, dann ein Räucherstäbchen, eine metallene Schale, ein metallener Stab und zwei Holzstücke wurden sorgfältig auf dem Rand des Kastens postiert, und unter einer Vielzahl weiterer Verbeugungen mit vor der Brust zusammengepreßten Handflächen, mal in die eine, dann in die andere Richtung, nahm eine liturgische Handlung ihren Lauf, die sich immer um den flachen Kasten mit dem breiten, schwarzen Kissen drehte und ihn bald an einen Altar erinnern ließ, an dem letzte Vorkehrungen zum Heiligen Abendmahl getroffen wurden.

     Als sich die drei schließlich auf ihre eigenen, demütig am Boden liegenden Kissen niedergelassen hatten – nicht ohne sich auch vor diesen noch einmal verbeugt zu haben –, herrschte im Raum absolute Stille. Nur die Geräusche der unten, an der Ampel anfahrenden Autos, der Motorräder und Mopeds und in der Ferne der Preßlufthämmer, Schrämbohrer und Planierraupen des U-Bahnbaus waren zu hören, so kristallklar, wie Hülsmann sie selten vernommen hatte.

     In diesem Moment öffnete sich die Seitentür erneut, und es erschien der Meister. Nicht behutsam, sondern schwungvoll ging die Tür diesmal auf und keineswegs so geräuschlos wie zuvor. Große, schwarze, weichbesohlte Schuhe betraten den Raum, schnellten unter dem schwarzen, weiten, bis fast zum Boden hinabreichenden Umhang hervor und nahmen den kleinen Saal sofort in Besitz. Ein breites, geradezu schelmisches Grinsen erleuchtete das Gesicht des Meisters, der sich keineswegs so gezwungen und verschämt bewegte wie die drei Grazien, sondern frei heraus in die Reihen der Sitzenden blickte und beim Gehen in einer Weise mit den Armen ruderte, als ginge es darum, als erster das Refektorium zu erreichen.

     Behend hüpften die weichen Schuhe die drei Stufen zum Podium empor, und einen Augenblick später hatte die stattliche Figur mit dem wallenden, schwarzen Gewand auf dem Kissen Platz genommen, das in der Mitte des erhöhten Kastens lag. Mit untergeschlagenen Beinen und mit Händen, die er genau in der Weise von Annikas Nachbar und den drei jungen Frauen auf dem Podium übereinandergelegt hatte, den Blick vor sich auf den Boden gerichtet, saß er nun so bewegungslos da wie der Buddha selbst oder wie der Fujiyama am Horizont einer japanischen Landschaftsmalerei.

     Der Meister schien im Begriff, augenblicklich in tiefste Meditation zu verfallen. Dann jedoch, nach einer Minute vielleicht, die Hülsmann wie eine Ewigkeit vorkam, entschied er sich offenbar anders. Denn er sah plötzlich auf, blickte ins Publikum, die Starre seines Gesichts löste sich wieder, und er entfaltete, ähnlich einer exotischen Blütenpflanze, die man, zu ihrer eigenen Überraschung und Freude, aus dem kalten Keller in die pralle, wärmende Frühlingssonne gestellt hat, ein charmantes, gütiges, sich immer weiter und weiter öffnendes und schließlich auf den ganzen Raum und jeden darin Befindlichen ausgreifendes Lächeln.

     Der Meister nahm die Hände auseinander. „Bevor wir beginnen“, eröffnete er, langsam und gesetzt artikulierend, mit einer tiefen, sonoren, wenn auch nicht übermäßig lauten Stimme, „möchte ich uns die Gelegenheit geben, einige Minuten gemeinsam still zu sein“.

     Hülsmann, dessen durch Hitze und Platzmangel zum Zerreißen gespannte Nerven danach gelechzt hatten, sich endlich durch einen Schwung frischer und interessant vorgetragener Worte ablenken zu können, blickte wie gelähmt nach vorn.

     „Ich weiß“, fuhr der Meister nach einer kunstvollen Pause fort, die gerade noch so bemessen war, daß Hülsmann den ersten Satz nicht wieder vergessen hatte, „die Hitze ist groß. Aber denken wir nicht darüber nach – werden wir einfach eins mit ihr.“

     Der Meister hielt erneut inne, auf daß seine Worte einwirken konnten wie das feine Sprühwasser, das man auf steifgetrocknete Wäsche träufelt, damit sie sich, wieder geschmeidig geworden, nur desto besser bügeln läßt.

     „Wollen wir also“, setzte er wieder an, jetzt mit noch schleppenderem Tonfall, „einfach fünf Minuten gemeinsam sitzen. Versuchen wir, die Wirbelsäule dabei aufzurichten. Stellen wir alle Bewegungen weitmöglichst ein. Beobachten wir unseren eigenen Atem, wie er kommt – und geht. Atmen wir ein – und aus. Ein – und wieder aus. Werden wir mit unserem Atem und allem um uns herum eins.“

     Der Meister senkte die Augenlider, ergriff das dünne Stäbchen und schlug damit gegen die Metallschale, die zu seiner Rechten aufgestellt war. Ein heller, glockenartiger Klang ging von ihr aus, vibrierte verheißungsvoll schwebend, dehnte sich bis zu den hintersten Sitzreihen aus und erfüllte den ganzen Raum. Dann, einige Sekunden später, nachdem der erste Schlag verklungen war, noch einmal: Ping, tönte es singend und langanhaltend durch den Saal, und als der letzte Nachhall verstarb, wagte niemand mehr, sich zu rühren.

     Hülsmann saß, das linke Bein noch immer über das rechte geschlagen, und starrte fassungslos zu der versteinerten, auf dem Kasten thronenden Figur des Zen-Meisters. Daran, seinen eigenen Atem zu betrachten, war gar nicht zu denken. Alles in ihm sträubte sich, protestierte, rebellierte. Seine Hände lagen nicht ruhig, sondern zitterten plötzlich und wurden feucht. Er spürte etwas im Hals, wollte sich räuspern, aber traute sich nicht. Von heißer, gehemmter Lebensgier getrieben schlug sein Herz wild, drang ihm bis zum Halse, schien bersten zu wollen vor Aufbegehren, vor Widerstand gegen die Hitze und die geschlossenen Fenster, so unsinnig wie unerträglich, die Enge seines Sitzplatzes, so fürchterlich wie qualvoll, und vor allem diesen grotesken Krampf des Stillsitzenmüssens. Gewaltsam, von innen heraus wollte es sie aufsprengen, diese eiserne Fessel, die ihm um die Kehle gelegt war und sie zuzuschnüren drohte.

     Hülsmann gab sich einen Ruck. Er durfte sich jetzt nicht bewegen, das war die Hauptsache. Nur nicht auffallen. Nur nicht in Erscheinung treten als derjenige, der es als erster nicht mehr aushielt. Sollte doch ein anderer zuerst entnervt aufspringen, oder wenigstens einen lauten Seufzer in den Raum schicken. Oder ostentativ die Arme heben und die Schultern recken, um sie zu lockern. Hülsmann horchte angestrengt. Aber alles blieb ruhig.

     Er mußte sich zusammenreißen! Sich ein Beispiel nehmen an den anderen. Die ertrugen es doch auch noch. Annika etwa. Hülsmann schielte zur Seite und gewahrte den Schweißtropfen, der ihr gerade von der Stirn auf die Bluse rann und den leichten, rosafarbenen Sommerstoff tief dunkelrot färbte.

     Sein linker Fuß kribbelte. Hülsmann erschrak. Was war das? Er bewegte die Spitze ganz vorsichtig auf und nieder, so daß es keiner sehen konnte. Aber es wurde nicht besser. Noch einmal versuchte er es, jetzt mit kleinen Kreisen, mal rechtsrum, ganz langsam, dann linksrum. Ohne Erfolg. Nein, dachte er entsetzt, nur das nicht. Nicht, daß der Fuß jetzt einschlief oder sich gar ein Wadenkrampf einstellte! Um Gottes Willen, nur das nicht, dachte er! Nicht jetzt!

     Hülsmanns Gedanken fieberten. Was konnte er tun? Er mußte das Bein wieder vom Knie herunternehmen, das war seine einzige Rettung. Aber wie sollte er das anstellen? Die ältere Dame vor ihm saß noch immer angelehnt, und wenn er das Knie hastig vorbeizog, würde er ihr wieder in den Rücken stoßen wie vorhin. Und außerdem war auf seiner linken Stuhlseite kein Platz mehr. Der Oberschenkel der Dicken – dick war gar kein Ausdruck, dachte Hülsmann sarkastisch – hatte jetzt nicht mehr nur ein Drittel, sondern fast die Hälfte seines eigenen Sitzes belegt und würde sie auch nur unter Anwendung von Gewalt wieder freigeben.

     Ganz vorsichtig zog er das Bein hoch – zum Glück konnte er es noch bewegen, denn Fußsohle und Ferse waren schon taub – und begann, mit dem Knie sachte gegen die Lehne der älteren Dame zu drücken. An den sich verformenden und verschiebenden Falten ihres hellen Kostüms konnte Hülsmann erkennen, wie ihr Rücken arbeitete, und dann schnellten, als sein Knie endlich passierte, Plastiklehne und Dame abrupt nach hinten zurück.

     Das war geschafft.

     Aber wohin nun mit dem Bein, dessen Taubheit bereits über die Knöchel hinauf weiter nach oben stieg? Hülsmann hätte schreien mögen. Statt dessen versuchte er, das Bein so vorsichtig wie irgend möglich auf dem dicken, kurzen Oberschenkel links von ihm abzulegen. Als dieser das Gewicht spürte, zuckte er einmal kurz auf, als ob er Platz machen wollte. Aber der Versuch blieb so kläglich wie das letzte Lebenszeichen eines alten Karpfens, der, schon seit längerem an Land liegend, wußte, daß auch dies ihn nicht wieder ins Wasser zurückbringen würde. Dann rührte die Dicke sich nicht mehr. Gut, dachte Hülsmann. Wenn der Krampf in der Wade jetzt nicht eintrat, dann konnte er die Verhandlung über die Platzfrage nachher mit ihr führen, wenn die Meditation vorüber war.

     Wie lange sollte die überhaupt noch dauern? Hülsmann hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Saßen sie hier schon seit einer Stunde im Wachkoma oder erst seit zwei Minuten? Gütiger Gott, vielleicht mußte er noch mehr als doppelt so lange ausharren! Und die Wade, die Wade, nein, es ging nicht mehr, nein ...!!

     Das Zusammenschlagen der Klanghölzer durch den Meister erreichte Hülsmanns Aufmerksamkeit wie ein schweres Brett, das ihm auf den Schädel fiel. Er wußte nicht, ob es ihn aus einem Alptraum weckte oder ihn im Gegenteil in die Ohnmacht sandte. Jedenfalls war das Nächste, dessen er sich später mit einiger Deutlichkeit erinnern konnte, daß er draußen auf der Straße saß, auf einer Stufe vor der holländischen Pommesbude, und, in kaltem Schweiß gebadet, in die dämmernde Abendstimmung des Bermuda-Dreiecks sah.

 

 

Zweites Kapitel lesen

 

Zurück zum Editorial

 

 

Die Seiten und ihre Inhalte sind urheberrechtlich geschützt! Copyright © Roland Salz 2000 - 2024

Version 24.4.2024

Impressum   Datenschutzerklärung