Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                                                     Erzählung

Kapitel 2

 

Entspannung, ja, dessen Steigerung gar: Meditation – das war für Philipp Hülsmann gleichbedeutend mit dem Morgen, den er allein und ungestört in seinem Haus verbrachte. Er genoß den Moment, wenn die Haustür zufiel, wenn sie fröhlich ins Schloß rastete hinter seiner Freundin, die sich wie jeden Morgen lustlos aufmachte zur Universität. Zur Ruhr-Universität genauer gesagt, jenem riesenhaften und manchmal gespenstisch wirkenden Gebilde, das man von der Kuppe des kleinen Hügels aus, an dessen Fuß das Haus lag, undeutlich in der Ferne ausmachen konnte. Dorthin also brach Annika auf, zu den Höhen des Querenburger Sattels, dessen alte Buchenbestände, saftige Viehweiden und wogende Weizenfelder sich vor vierzig Jahren, zusammen mit den darin eingestreuten Voll- und Halbmeiergehöften, den Wohnstätten der Viertelmeier oder Erbkötter sowie ein paar Bergmannskaten, in eine gewaltige Landschaft aus Betonterrassen verwandelt hatten, die sich nun wie riesige Balkone ins steile Tal des Lottenbachs hinunterlehnten. Dort würde sie den Tag verbringen, indem sie vor einen Haufen verschlafener und lustloser Studenten trat, lustlos auch letztere, weil sie das Buch des Professors, aus dem Annika ihnen über Anorganische Chemie las, selbst vor sich liegen hatten. Sie würde den Tag zubringen, indem sie in endlosen Labors endlose Versuchsreihen weiterführte und endlose Protokolle darüber anfertigte, oder indem sie, wenn am späten Nachmittag noch etwas Zeit übrigblieb, an ihrer Habilitation weiterschrieb, deren Fertigstellung noch in endlos weiter Ferne lag.

     Hülsmann beneidete sie nicht. Und doch war er froh, wenn sie fort war und wenn er das Haus, sein Haus, endlich für sich hatte. Gerade jetzt, am Morgen, in jener für ihn und sein gesamtes Wohlbefinden so außerordentlich wichtigen Stunde, bevor er selbst an die Arbeit ging.

     Er hatte wie immer mit ihr gefrühstückt, nicht um ihr unbedingt Gesellschaft zu leisten, sondern damit er selbst sofort anfangen konnte, wenn sie das Loft verließ. Einen Moment lang blieb er diesmal aber doch noch sitzen, an dem langen Eßtisch, sah hinüber zu den hohen, zweistöckigen Fenstern, deren Vorhänge ganz zurückgezogen waren und durch die die Sonne auf breiter Front in die Wohnung hineinfiel. Im Winter ließ sich das alte Zechengebäude schlecht beheizen, er hatte die Probleme bei der Planung unterschätzt. Aber jetzt, im Sommer, war es um so schöner, und immer wieder, wenn er nach dem Aufstehen durch diese Fenster blickte, rief er sich den Namen des einstigen Bergwerks in Erinnerung, der so wohl in seinen Ohren klang: Fröhliche Morgensonne.

     Es war ein Traum, den er sich hier erfüllt hatte. Durch Zufall, auf einem sonntäglichen Spaziergang durch diesen entlegenen, ganz von Grün umgebenen Bochumer Stadtteil war er, am Ende eines überwachsenen Weges, dessen nostalgischer, beinahe romantischer Name Förderstraße seine Neugier geweckt hatte, auf das halbverfallene Gebäude aus unverputzten Backsteinwänden gestoßen, mit Lisenen und Bogenfriesen im Stil der Neoromanik verziert und von hohen, breiten, einem Kirchenraum angemessenen Rundbogenfenstern durchbrochen. Die Maschinenhalle der einstigen Schachtanlage Schwarzer Peter hatte er vor sich, wie er später in einem Buch über die historischen Bergwerke des Ruhrgebiets recherchierte, einen Außenposten jener Zeche mit dem wohlklingenden Namen – einem Namen, den der Bergmann, nach anstrengender Nachtschicht auffahrend ans Licht, müde, erschöpft und mit von Kohlenstaub umrandeten Augen, schon im Förderkorb, eingezwängt zwischen den anderen Kumpeln, auf den Lippen getragen haben mußte wie ein Mantra.

     Hülsmann sah alles noch vor sich. Wie er das rostige Ölfaß vor eines der Fenster gerollt hatte, um hinaufzusteigen und einen Blick in das Innere des Gebäudes werfen zu können. Die rechteckigen Scheiben zwischen den Windeisen waren fast überall zerbrochen, und so konnte er den riesigen, leeren Raum gut einsehen. Was für ein Raum! Unwillkürlich hatte sein geübtes Architektenauge begonnen, darin eine Wohnarchitektur zu entwerfen, seine Wohnarchitektur: den zweistöckigen, bis unter das Dach der Halle reichenden Luftraum hier vor den Fenstern nach Süden; eine robuste Freitreppe aus Stahl, wie man sie noch heute in den großen Walzwerken am Hellweg fand, für den Arbeiter, der sie mit schweren Schuhen bestieg, und die hier zu einer Galerie im ersten Stock hinaufführte, von der die Zimmer zu den anderen Seiten des Gebäudes abgingen; die stählerne Brücke mit dem Lastenkran, die sich auf einer Bühne bewegen ließ, direkt über dem Luftraum, so daß die schweren Transportketten bis fast zum Boden hinunterhingen; zum Boden des Erdgeschosses, das mit breiten, alten, gewachsten Holzbohlen belegt und als durchgängiger Raum belassen war, über die gesamte Fläche der Halle sich erstreckend, so daß sich jeder seiner Abschnitte – Wohnzimmer, Küche, Eßbereich und Flur – in diesen gewaltigen Luftraum öffnete, das Herzstück seiner, Hülsmanns, Wohnhalle, seines Studios, seines Ateliers, seines Tempels der Arbeit – seiner Zeche.

     Der Traum war Wirklichkeit geworden. Klug und verbissen hatte Hülsmann an der Realisierung gearbeitet, und doch konnte er bis heute nicht glauben, daß sich alles so schnell und reibungslos erfüllt hatte, daß die kühnen Pläne jenes Sonntagnachmittags, den er auf dem rostigen Ölfaß verbracht hatte, im kalten, zugigen Wind stehend, jetzt und hier sichtbar, begehbar und bewohnbar waren.

     Die Sache hatte nur einen Haken, und immer wenn Hülsmann, wie jetzt, mit seinen schwelgenden, verklärenden Erinnerungen an die Entdeckung, die Idee zu Erwerb und Umbau, die Planung und schließlich Durchführung der Instandsetzung seines neuen Domizils zu jenem Punkt des erfolgreichen Abschlusses gelangt war, drängte sich ihm plötzlich ein anderes Bild auf. Der ungeliebte Anblick seines Büros nämlich, mit den zahllosen schwarzen, säuberlich aufgereihten Aktenordnern auf drei Seiten, den großen Zeichentischen und schließlich dem riesigen, wenn auch immer sorgfältig aufgeräumten Schreibtisch. Einziger Lichtblick in dieser trostlosen Szenerie war das schwarze, unförmige Grubentelefon, das mittig auf dem Schreibtisch stand und das er um nichts in der Welt hergegeben hätte, auch wenn er sich an seiner klobigen Muschel noch jedesmal das Ohr wund rieb.

     Natürlich hatte sich Hülsmann verschulden müssen, und zwar weit mehr, als ihm lieb war. Immer neue Unkosten hatte die aufwendige Renovierung der alten Gemäuer verschlungen, immer neue Rechnungen präsentierten ihm die Bauunternehmer und Handwerker. Schließlich hatte sogar seine Freundin noch mit ihrem Bausparvertrag aushelfen müssen, und auch sie saß nun auf diesem Berg von Schulden.

     Kohle war keine mehr da, auch nicht im Untergrund, auf dem die Maschinenhalle am Ende der Förderstraße errichtet war. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sich die Vorräte in den Flözen erschöpft, und Schwarzer Peter,  der erste und einzige Tiefbauschacht der früheren Stollenzeche, hatte sich finanziell als Reinfall erwiesen. Die geringe Menge schwarzen Goldes, das sich hier in großer Tiefe abbauen ließ, hatte die hohen Kosten für das Abteufen des Schachtes nicht wieder reingeholt. Mancher mutige Bergbauunternehmer des Ruhrgebiets war mit seinem Grubenfeld schnell reich geworden; andere dagegen – und zu ihnen zählte der unglückliche Friedrich C. Sägehammer jr. aus Berlin, der letzte Besitzer von Fröhliche Morgensonne und von seinen Untergebenen liebevoll Hämmerchen genannt, wie Hülsmann aus einer Chronik erfahren hatte – andere also mußten Konkurs anmelden und machten ihrem Leben von eigener Hand ein Ende.

     Hülsmann dachte nicht gerne an das Schicksal des langverstorbenen Erbauers seiner Halle. Nicht, daß er abergläubisch war. Aber es ließ sich nicht leugnen, daß dieses Anwesen schon einmal einem Menschen Unglück gebracht hatte. Auch der hatte vielleicht eines Tages, an einem kalten, windigen Sonntagnachmittag, hier am Fuße des kleinen Hügels gestanden, hatte beim Anblick des lieblichen Ortes, der amönen Landschaft rings umher und im Vertrauen auf ihren auch unterirdischen Reichtum eine Fülle von Ideen gehabt, die er schließlich, unter Einsatz enormen Kapitals, in die Tat umgesetzt hatte, indem er ein großes, kompliziertes Bergwerk darauf errichtete. Mit Wehmut betrachtete Hülsmann das Bild der alten Schachtanlage aus dem Jahre 1908. Offenes, stählernes Fördergerüst, Maschinenhaus, Kesselhaus, Lüftergebäude, Waschkaue, Kohlenwäsche und Verladestation, alles drängte sich auf engstem Raum zusammen und nahm doch mehrere Fußballfelder in Anspruch. Er hatte sich die vergilbte Photographie, die einzige, die es noch von den Tagesanlagen gab, auf eine riesige Leinwand vergrößern lassen, die jetzt an der Stirnwand des Wohnzimmers hing.

     Wieder wollte sich Hülsmann, noch immer am Kopfende der langen, leeren Tafel sitzend – an der der Vorstand eines Industriekonzerns hätte tagen können, wie Annika immer stichelte – der Anblick seines Arbeitszimmers aufdrängen. Er wußte um die endlose Liste von manchmal endlosen Telefonaten, die er sich für heute zusammengestellt hatte mit dem Ziel, endlich einen größeren Auftrag zu erlangen. Der letzte lag nun schon mehr als ein halbes Jahr zurück, und wenn sich nicht bald etwas Neues fand, dann wurde es mit den Hypothekenraten eng.

     Und dennoch schob Hülsmann den Anblick noch einmal mit Gewalt beiseite. Dies hier war seine Stunde! Noch nicht die Stunde der Arbeit, der unerquicklichen und langweiligen, ermüdenden und so oft enttäuschenden, nein. Es war die Stunde der Meditation: seiner Meditation.

     Hülsmann sprang auf, streckte genüßlich den Rücken durch und rieb sich die Hände: „Es geht los!“

     Schnell trug er das Frühstücksgeschirr hinüber in die Küche und stellte es in die Spüle. Den Rest der Kaffeekanne goß er in seine Arbeitstasse, die so bauchig war, daß sie fast einen halben Liter fassen und ihm auch über die quälendste Unterredung am Grubentelefon hinweghelfen konnte. Durch den weiten, hohen Luftraum steuerte Hülsmann auf die Freitreppe zu, erklomm die stählernen, weithin hallenden Stufen und brachte die Tasse in das Zimmer, das Annika nicht leiden konnte und das Hülsmann daher stets verschlossen hielt. Es war für sie tabu. Denn nichts konnte Hülsmann weniger gebrauchen und nichts konnte ihn mehr erbosen, als wenn seine Freundin hier hinein zum Aufräumen kam, wie sie ihr rücksichtsloses Umkrempeln regelmäßig nannte und die heillosen Verwüstungen, die dabei entstanden.

     Vorsichtig, mit dem Kaffee in der Hand, öffnete Hülsmann die Tür, dann, im Innern, stellte er die Tasse auf die Ablage rechts von ihr. Das Zimmer war eher klein, zumindest im Vergleich zu den anderen Räumen der Maschinenhalle, aber wie diese alle sehr hell. Ausgefüllt wurde es von einem breiten, massiven, in der Mitte aufgestellten Tisch, um den sich, wie um ein Billard, keine Stühle gruppierten. Vor dem Fenster stand ein weiteres, hohes, aber nur sehr kleinflächiges und einbeiniges Tischchen. Die einzige Sitzgelegenheit bestand aus einem Barhocker, den Hülsmann mal in die Nähe der Kaffeeablage stellte, dann wieder neben das Würfeltischchen und von dem aus er, in den wenigen Spielpausen, die er sich gönnte, auf jeden Fall die Kakteen betrachten konnte, die die Fensterbank ausfüllten.

     Beim Anblick des Spielplans erinnerte sich Hülsmann wieder an die aktuelle Lage. Die Lage der  Bochumer Architektur in ihrer Gesamtheit sozusagen und die Geschehnisse, die gestern zu ihr geführt hatten. Aus großer Distanz, von oben herab und dennoch nicht ohne ein Seufzen, besah er zuerst die eigene Situation. Da stand er, Hülsmann, ganz allein und schon seit vielen Runden gefangen in einer Schleife, diesem schönen, müßigen, nutzlosen Spazierweg durchs Weitmarer Holz, aus dem es, abgesehen von einigen wenigen überraschenden Ereigniskarten, nur mit zwei Sechsern ein Entkommen gab. Das zusätzliche Übel aber bestand darin, daß neben den erfreulichen eine Vielzahl anderer, weniger erfreulicher Ereigniskarten in dem roten Stapel lauerte, die ihm den Spaziergang durch den alten Bochumer Buchenwald endgültig verleiden konnte. Ja, gerade gestern war er auf den Jörgen-Stein getreten und hatte dabei so eine rote Karte gezogen: Das Finanzamt Bochum-Süd fordert eine Umsatzsteuernachzahlung in Höhe von sechstausend Euro. Zahlbar sofort. Wie aber sollte er zahlen, wenn er ein ums andere Mal die endlos gleichen Wege durch das Ilexgestrüpp nehmen mußte, anstatt endlich mit zwei Sechsern wieder ins Spiel zurückzukehren, das heißt zur Jagd nach Aufträgen und ihrer abenteuerlichen, immer wechselvollen Realisierung? Er erinnerte sich jetzt, daß er gestern bei seinem Erzrivalen Bodo Mölleken – auch einem Bochumer Architekten, der nicht weit von Hülsmann entfernt wohnte, im Stadtteil Sundern, nahe der ehemaligen Sternwarte – einen Privatkredit hatte aufnehmen müssen. Den hatte er jetzt also auch noch am Hals.

     Hülsmann suchte die Figur Möllekens. Ach ja! Der hatte gestern eine Kooperationskarte gezogen und sich mit Prof. Waldebert Kleinschläger liiert, vom renommierten Wattenscheider Büro  Kleinschläger, Sonnwend und Kurzum Architekten, kurz KSK genannt. Mölleken bewegte sich nämlich zur Zeit im inneren Kreis um das Stadtbauamt, dort, wo es die grünen Ereigniskarten und damit die dicksten städtischen Aufträge zu holen gab. Die Ausschreibung  zum Bau der neuen Konzerthalle im Westpark stand kurz bevor, und jetzt galt es für jeden, seine Ausgangsposition zu optimieren.

     Hülsmanns Blick ging zurück. Er sah sich dort unten, fernab auf schmalen Waldwegen wandelnd, und seufzte erneut. Aber, und das mußte man ihm lassen: er spielte ehrlich. Wenn einer seiner Rivalen am Zug war, ganz egal wer es sei – und selbst bei Eduard Jegottka, diesem Schuft, blieb er seinem Grundsatz treu –, dann versetzte er sich ganz in ihn hinein, handelte ohne Eigennutz und ausschließlich in dessen Interesse. Das war es überhaupt, was dem Spiel erst seinen Reiz verlieh. Immer wieder, von einem Moment zum anderen, konnte, nein mußte er sich vom eigenen Schicksal lösen, sei es gerade trist oder euphorisch, um in die Haut eines anderen zu schlüpfen. Die schillernde Welt der Bochumer Architektenschaft, mit all ihren Höhen und Tiefen, ihren Glückstreffern und Ungerechtigkeiten, ließ sich dadurch von allen Seiten zugleich erleben. So gab es kein Gewinnen und kein Verlieren mehr, keine Verzückung und keine Tragik, denn Hülsmann, der Spielmeister, stand über den Dingen. Von oben, aus großer Höhe blickte er auf das Brett hinunter, unparteiisch und leidenschaftslos wie eine griechische Gottheit ...

     Die ließ sich nun auf dem olympischen Hocker nieder und wandte sich noch einen Moment vom Kampfgeschehen ab, um schwarzen, ambrosischen Nektar aus bauchiger Tasse zu schlürfen. Dabei war es kein einfaches Spielbrett, das vor Hülsmann auf dem breiten Tisch stand. Nein, eine kunstvolle Relieflandschaft, die dem Bochumer Stadtprofil bis ins Detail nachgebildet war. Einem jener plastischen und stark abstrahierten Modelle glich es, wie sie die Architekten zur Darstellung ihrer Entwürfe anfertigen lassen, großräumiger, komplizierter Gebäudekomplexe und ihrer Anordnung in der umgebenden Landschaft, um sie potentiellen Auftraggebern zu präsentieren. Vielgleisig wie eine Modelleisenbahn war diese Abbildung der Stadt an der Ruhr, mit verschiedenen Routen, Kreuzungen, Schleifen und Sackgassen. Aber die Wege, die sich um all die Monumente und Sehenswürdigkeiten der Stadt herumschlängelten, bestanden nicht aus Schienensträngen, sondern untereinander verketteten Spielfeldern. Die Figuren mit den Namen der Bochumer Architekten waren es, die sie bevölkerten und die auf ihnen, den Gesetzmäßigkeiten des Würfels folgend, vorwärtsschritten.

     Hülsmann stand auf und nahm den Becher. Wer war dran?

      Alle Spielfiguren – es waren insgesamt mehr als zwei Dutzend, der Zahl seiner Kollegen im RDA, Ring Deutscher Architekten, Sektion Bochum, entsprechend – bildeten mit der ausgestreckten Hand eine kreisförmige Öffnung, durch die ein kleines, rotes Fähnchen gesteckt werden konnte. Am Ende einer Spielsitzung gab Hülsmann es derjenigen Figur in die Hand, die zuletzt an der Reihe war, und so wußte er am nächsten Morgen sofort, wo es mit dem Spielgeschehen weiterging. Hülsmann umrundete also das Modell der Stadt Bochum und suchte nach dem roten Fähnchen. Er konnte es nicht auf Anhieb entdecken und erinnerte sich auch nicht, wer es gestern erhalten hatte. Um es zu finden, schritt er mehrmals die Südflanke des Stadtraums ab, entlang des gewundenen, von schroffen Abhängen gesäumten Verlaufs der Ruhr. Er suchte auf den Höhen des Stockumer Sattels nördlich von ihr, schaute in die schmalen, tiefen, von alten Zechenstollen zerfressenen Seitentäler, bog dann um die Ostseite des Tisches, damit er, dem Lauf des Ölbachs in umgekehrter Richtung folgend, auch die östlichen und nordöstlichen Stadtteile absuchen konnte: Langendreer, Werne, Harpen, bis hinauf nach Gerthe, Riemke und Bergen. Schließlich fand er das Fähnchen im äußersten Nordwesten, im flachen, sich schon dem Emscherbruch zuneigenden Hordel, bei der ehemaligen Zeche Hannover. Ach ja, Blaupunktiert: Prof. Waldebert Kleinschläger. Der hatte ebenfalls eine Auszeit bekommen und mußte zwei Runden am Malakow absitzen. Dort, dachte Hülsmann vergnügt, im Biergarten unterhalb des schweren, alten Backsteinturms, den man einst über der Schachtanlage errichtet hatte, damit er das Fördergestell trug, dort also, bei einem Glas Weißbier und im Angesicht jener einhundert schwarzen Bergmannsschuhe, die wie jeden Tag auf dem Vorplatz des Westfälischen Industriemuseums aufgestellt und durch die jahrelange Hockstellung ihrer einstigen Benutzer durchgebogen waren, konnte er seinen Entwurf zum Konzerthaus noch einmal in Ruhe überdenken.

     Um sich die Reihenfolge der Spieler besser merken zu können, hatte Hülsmann die Figuren entsprechend den Farben des Regenbogens angeordnet. Da er aber bei der begrenzten Zahl von Farben, die er bequem unterscheiden konnte, jeder von ihnen drei Spieler zuordnen mußte, hatte er je ein Drittel der Figuren punktiert beziehungsweise schraffiert.

     Reinviolett war als nächstes an der Reihe: Ute Lehndeckel, eine junge Architektin und gute Freundin von Hülsmann. Sie hatte sich in einer anderen Bochumer Peripherie verirrt, in Oberdahlhausen, ganz im Südwesten gelegen, und wenn sie jetzt noch eine Sieben würfelte, dann traf sie genau auf das Eisenbahnmuseum. In diesem Fall mußte sie eine Fahrt mit dem historischen Dampfzug unternehmen, das ganze Ruhrtal hinauf bis Witten-Bommern und wieder zurück, was unsäglich viel Zeit kostete und sie von der Vergabe um das Konzerthaus endgültig ausschloß.

     Hülsmann schüttelte den Lederbecher, schüttelte noch einmal, schüttelte lange und ausgiebig, dann hieb er ihn mit Wucht auf das Würfeltischchen. Das war der Klang, der Annika auf die Palme brachte. Es war der Paukenschlag, der sich in Haydns Sinfonien schob, aber auch die Musik von Beethoven oder Mozart, von Saint-Saëns oder Debussy, Philip Glass oder John Cage. Wehe, wenn sie unten, im Wohnzimmer, Klassik hörte. Hülsmann durfte jetzt nur noch morgens und an Werktagen spielen, wenn seine Freundin außer Haus war. Früher hatte er auch abends regelmäßig eine Stunde im Spielzimmer verbracht, zum Abschalten von der täglichen Arbeit, aber das hatte Annika ihm ausgetrieben. Würde er es dennoch versuchen, so begann sie sofort mit dem Klavierspiel. Hülsmann wußte, daß sie bis zu drei Stunden am Stück an ihrem schönen, schwarzglänzenden Flügel sitzen konnte. Und wenn sie ihm übelwollte, dann suchte sie solche Stücke aus, die sie noch nicht beherrschte und die sie daher Takt für Takt durchging, immer und immer wiederholte, so lange, bis Hülsmann entnervt aufgab, den Würfelbecher freiwillig stehenließ und das rote Fähnchen steckte.

     Aber nun war sie fort, Hera, die ewig Maßregelnde, und Hülsmann genoß den dumpfen Knall des Lederbechers, dessen Ränder sich vom langen, kraftvollen Gebrauch schon merklich nach innen bogen. Sieben! Der Göttervater konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und setzte die violette Figur, ohne sich größerem Mitleid hinzugeben, auf die historische Schmalspurbahn. Ade, Konzerthaus, ade!

     Im Verlauf der nächsten Züge, die zum Glück keinem seiner schärfsten Rivalen einen merklichen Fortschritt verschafften, entspannte sich Hülsmann zusehends. Er war jetzt nur noch wenige Spieler von Reinschwarz entfernt, also sich selbst, und damit nahte wieder die Chance, endlich etwas für sein Entkommen aus dem Gestrüpp von Ilex unter hohen, alten Buchen tun zu können. Noch aber hatte er Braunschraffiert vor sich: Gunther Gawoll. Das war ein ernster Fall. Der saß bereits im Vorzimmer des Planungsamtes, und wenn er jetzt noch eine Vier würfelte, dann bekam er eine Audienz bei Stadtbaurat Wiederbrink. Das war gleichbedeutend mit der Bewilligung eines Geschäftsgebäudes am Boulevard, brachte ihn aber auch dem Auftrag für eine der aufwendigen U-Bahnstationen in der Innenstadt näher. Hülsmann konzentrierte sich, fixierte die Würfel mit eindringlichem Blick, dann nahm er den Becher zur Hand und schüttelte. Er schlug ihn so fest auf das Tischchen, daß es zu schaukeln begann und die Würfel, als Hülsmann den Becher lüftete, nicht gleich zur Ruhe kommen ließ. Sie tänzelten eine Weile hin und her, und schließlich kullerte einer von ihnen zu Boden. Auf dem Tisch lag eine Eins und am Boden – eine Drei! „Ungültig,“ rief Hülsmann! Die Regel besagte, jedenfalls in den meisten Fällen, daß zu Boden gefallene Würfel nicht zählten und der gesamte Versuch wiederholt werden mußte.

     Erleichtert schüttelte Hülsmann von neuem. Doch was war das? Zwei und zwei. Also wieder vier! Mist!

     Er ergriff die Figur Gunther Gawolls und rückte sie zum Büro des Stadtbaudezernenten vor. Das konnte ja heiter werden an diesem Morgen, dachte Hülsmann. Zu allem Überfluß schellte das Grubentelefon, Hülsmann hörte es in seinem Büro, das an das Spielzimmer angrenzte, ungeduldig läuten. Wer konnte das sein, fragte er sich? Ein potentieller Auftraggeber? Oder aber nur Annika, die wieder ihre Tabletten vergessen hatte und ihn bitten würde, sie ins Institut vorbeizubringen? Verzweifelt ergriff Hülsmann das Fähnchen und steckte es zu Gawoll. Dann stürzte er aus dem Zimmer in Richtung zum Grubentelefon, legte den Signalhebel um und nahm den schweren Hörer in die Hand.

 

 

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