Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XXII. Der Ziehbrunnen im Seitenschiff, die Schwalbennestorgel und ein dreister Störenfried

 

Auf der Höhe der Kanzel des Johann Geiler von Kaysersberg, gegenüber, im südlichen Seitenschiff, finden wir auf einem Kirchengrundriß des 17. Jahrhunderts noch den Kindelsbrunnen eingetragen, in dem, wie wir gesehen haben, ein keltischen Quellenheiligtum aus dem 4. Jahrhundert v.Chr. fortlebte. Wer es nicht glaubt, daß sich im Seitenschiff des Straßburger Münsters tatsächlich bis in die Neuzeit hinein ein Ziehbrunnen mit gemauertem Brunnenrand befand, welcher sich von einem gewöhnlichen Dorfbrunnen nur durch das schmiedeeiserne Vierpaßmaßwerk an seinem Schöpfwerk unterschied, der sei zudem auf einen Stich von Isaac Brunn aus dem Jahre 1632 verwiesen.

          Das zweite große Ausstattungsstück des Straßburger Langhauses - neben der Kanzel - ist die Orgel. Sie ist an der nördlichen Hochschiffwand des sechsten Joches aufgehängt und stellt eines der eindrucksvollsten Beispiele einer mittelalterlichen Schwalbennestorgel dar. Schon 1292, wenige Jahrzehnte nach der Fertigstellung des Langhauses, wurde an dieser Stelle eine erste Orgel installiert. Die heutige stammt in ihrem unteren Teil aus dem Jahre 1385, während der Aufsatz 1489 entstand. Das eigentliche Instrument wurde Anfang des 18. Jahrhundert gänzlich erneuert und seitdem mehrmals renoviert.

          Die Orgel ist so aufgehängt, daß ihre balkonartig vorkragende Tribüne, mit dem Platz für den Organisten, auf der Höhe der Triforiengalerie liegt. Dies bot sich an, zumal die Galerie im Mittelalter gut zugänglich war. Die Mitglieder der einflußreichen Familien verfolgten von hier oben aus die Messe, durch die Maßwerköffnungen des Triforiums hindurch.

          Die Orgeltribüne bildet eine Art von Konsole, die nach unten hin in einen mächtigen Abhängling ausläuft. Auf der Konsole steht das breite Orgelwerk, mit einem risalitartig vortretenden und überhöhten Mittelteil. An den Außenkanten der Seitenteile waren ursprünglich Holzflügel angebracht, die sich in der Art eines Flügelaltares aufklappen ließen und auf den Innenseiten Gemälde von Christi Geburt und der Anbetung der hl. Könige zeigten. An Stelle dieser Flügel sehen wir aber heute nur mehr die vielfach durchbrochenen und vergoldeten Holzdekorationen, wie sie den Orgelprospekt auch an anderen Stellen schmücken. Stilistisch gesehen stehen hier die ursprünglichen, spätgotischen Flamboyantformen in kaum merklichem Bruch neben den Akanthusranken aus der Renovierungszeit des Barock.

          Vor die Front der Orgeltribüne ist ein weiterer Baukörper gehängt, der die Form der Schwalbennestorgel im Kleinen wiederholt, einschließlich eines weiteren Abhänglings, und auf diese Weise den kleineren Orgelpfeifen Platz bietet.

          Getragen von sieben konkav gewölbten Rippen, die an den Ecken der über polygonalem Grundriß angelegten Tribüne ansetzen, reicht der Abhängling des Hauptorgelkörpers weit in die darunter liegende Arkadenöffnung hinein. An seinem Ende steht, auf einer Art von hängender Konsole, eine lebensgroße, vergoldete Skulptur des Samson im Kampf mit dem Löwen.

          Sicherlich ist es dieses abenteuerlich von der Orgel herunterschwebende Figurenpaar, das den Betrachter heute am meisten fasziniert. Die beiden merkwürdigen, ebenfalls lebensgroßen Skulpturen, die an der Wand oberhalb des Arkadenbogens, links und rechts des Samson, auf unscheinbaren Sockeln stehen, wird er dagegen nicht so leicht einzuordnen wissen. Kann man in der links von der Orgel stehenden Figur nach einiger Betrachtung noch einen trompetenden Herold erkennen, an dessen Instrument ein großes Stadtwappen aufgehängt ist, so bleibt man bei der anderen Figur, die den Eindruck eines struppigen und kauzig dreinblickenden Waldmenschen macht, weitgehend hilflos. Tatsächlich handelt es sich bei dieser Gestalt um eines der verblüffendsten Phänomene des mittelalterlichen Straßburger Münsterlebens.

          Denken wir noch einmal an die Astronomische Uhr im Südflügel des Querhauses zurück und damit an die lange, bis ins 14. Jahrhundert zurückreichende Tradition, die die Vorliebe für mechanisch bewegte Figuren im Straßburger Münster aufweisen kann. Die beiden Figuren links und rechts des Orgelzapfens stammen ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert, und sind ebenfalls Automaten. Über Seilzüge und Hebel läßt sich der Kopf des Herolds drehen, und der Bretzelmann - denn einstmals hielt sein kauziger Gegenüber eine solche in der Hand - kann nicht nur die unteren Teile der verschroben abgespreizten Arme klappen, sondern auch den Unterkiefer. So ist er als jemand konzipiert, dem man allenfalls laute und so abrupte wie verworrene Reden zutrauen kann. Genau das tat diese Figur auch.

          364 Tage im Jahr rührte sich der Bretzelmann nicht, aber am Pfingstmontag erwachte er als Roraffe, als ein röhrender "Affe" also, zum Leben. Auf einmal erschallte von dieser liederlichen Figur, mitten während der Messe und auf die völlig verblüfften, oft von weither angereisten und in frommer Andacht zur Feier dieses hohen Kirchenfestes zusammengekommenen Gläubigen, derart Unerhörtes herunter, daß es einem die Sprache verschlagen konnte. Alle starrten nach oben, wenn der Bretzelmann unvermittelt seine Arme in gestikulierende Bewegungen versetzte und zum mechanischen Klappern seines Holzkiefers mit lauter, hoher Stimme Hohn und Spott über die Zuhörerschaft ausgoß. Der Bretzelmann fiel schamlos den zelebrierenden Priestern ins Wort, sang lauthals falsch die Kirchenlieder mit, ließ in den feierlichsten liturgischen Momenten lautes Gelächter von sich hören und durchsetzte die erbaulichen Predigten Meister Geilers mit unanständigen Witzchen und Obszönitäten. Schlimmer noch: ungestraft konnte er einzelne, vielleicht sogar in hohen Ämtern und Würden stehend Gläubige aus der Versammlung herauspicken, sie mehr oder weniger direkt oder indirekt an den Pranger stellen, aber auch offen beleidigen. Und nicht einmal der Bischof selbst blieb dabei ausgenommen.

           Natürlich mangelte es nicht an Versuchen von Seiten einiger Stadträte, aber auch des uns namentlich bekannten Moralpredigers, diesem Unwesen ein Ende zu bereiten. Jedoch, beide Parteien konnten nichts ausrichten. Bis zur Reformation, also mehr als 150 Jahre lang, blieb der Brauch des am Pfingstmontag auf die Gläubigen herunterröhrenden "Affen" bestehen. Jedes Jahr aufs neue hatte ein junger Meßdiener durch eine Falltür in den Zapfen unter der Orgel hinunterzusteigen, die beiden Seilzüge für die hölzernen Automaten zu bedienen und dem Roraffen zusätzlich seine Stimme zu leihen. Nicht nur, daß ihm von höchstbischöflicher Seite Straffreiheit bei all seinem Tun zugesichert war; der Meßdiener wurde für seine Dienste regelmäßig mit Geld entlohnt, wie uns die alten Kirchenbücher verraten.

 

 

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