Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                          Internationale Architekturbeschreibung

XXXIII. Reiter und Störche: Die architektonische Gestaltung und Skulptur der übrigen Westfassade

 

Etwa achtzig Jahre vergingen zwischen dem Tod Erwins, 1318, und der Fertigstellung des Westbaumassivs. Die Seitenbereiche des zweiten Geschosses, links und rechts der Rose mit dem dahinterliegenden Hochschiff des Turmjoches, werden Erwins Sohn Johannes von Steinbach zugeschrieben und dürften bis etwa 1340 entstanden sein. Den breiten, in den Achsen der Seitenportale gelegenen Spitzbogenfenstern dieser Bauabschnitte, die man eigentlich schon als erste Turmgeschosse ansehen kann, denn hinter ihnen befindet sich, wie wir gesehen haben, kein Kircheninnenraum mehr, ist ebenfalls eine Art von Harfenmaßwerk vorgebaut, aber seine Lanzetten stehen in weiten Abständen und bilden nur noch ein schwaches Echo zu dem filigranen Maßwerk vor den Wandflächen des Portalgeschosses.

          Die Fensterrose war von Erwin gegenüber dem Entwurf des Riß' B deutlich abgesenkt worden. Dies hatte vermutlich den Grund, daß sie sonst nicht zur Belichtung des Narthex und damit des Langhauses in Frage gekommen wäre. Erinnern wir uns, daß selbst jetzt noch das Zentrum der Rose auf der Höhe des Scheitelpunktes des Langhaushochschiffes liegt.

          Durch die Absenkung der Rose reichen die Fenster der seitlichen Geschoßteile höher hinauf als das Rosenfenster selbst. Die verbleibende Höhe im mittleren Fassadenbereich wurde deshalb für den Bau einer Apostelgalerie genutzt. Sie zieht sich oberhalb des quadratischen Rahmens der Rose entlang, und die Wimperge ihrer Arkadenbögen durchstoßen die Balustrade des Gurtgesimses auf dieselbe Weise, wie es die Wimperge der Lanzetten des Harfenmaßwerks vor den seitlichen Fenstern tun. Diese Apostelgalerie, die den Königsgalerien der französischen Kathedralen entspricht, wurde aber vermutlich erst gegen 1370 geschaffen. Vorher zog man bereits die nächsten Geschosse der Seitentürme hoch: das nördliche dritte Geschoß des Massivs entstand etwa um 1340, das südliche erst 25 Jahre später.

          Das nachträglich zwischen diese beiden Turmgeschosse eingefügte Glockenhaus geht vermutlich auf Pläne aus der Zeit um 1360 zurück, wurde aber erst in den 80er und 90er Jahren des 14. Jahrhunderts errichtet. Es hat in seiner oberen Hälfte keine Verbindung zu den seitlichen Turmgeschossen, die dazwischen liegenden, breiten Spalten sind dem Betrachter auch von unten deutlich zu erkennen. Nur die über dem Massiv des Westbaus liegende, begehbare Plattform schließt diese Spalten durch eine ganzflächige Überbrückung.

         Stilistisch entfernen sich die Seitenpartien des dritten Fassadengeschosses schon weit vom ursprünglichen Entwurf (Riß B). Das plastifizierenden Harfenmaßwerk ist jetzt ganz aufgeben. Dafür werden die drei schlanken und hohen Fenster auf jeder Seite - das mittlere drei-, die äußeren zweibahnig - von Blendwimpergen bekrönt.

 Die Spitzbogenarkade der Apostelgalerie ist zwischen dem vorderen Rand des Rahmens der Rose und demjenigen des Laufgangs über dem Gurtgesims (zwischen zweitem und drittem Fassadengeschoß) aufgespannt. Die elf Öffnungen schaffen eine gleiche Anzahl von Figurennischen. Zusätzlich stehen zwei weitere Figuren links und rechts der äußersten Arkadenbögen, sie sind an den hier ansetzenden Strebepfeiler befestigt. Eine Maria orans, die die Mittelposition der Galerie, besetzt, wird von den zwölf Aposteln umgeben. Oberhalb der Maria erscheint Christus in einer Mandorla, einem den ganzen Körper umhüllenden mandelförmigen Heiligenschein, der hier mit seiner unteren Spitze auf der Brüstung des Laufgangs steht, dort, wo die Schrägen des Wimpergs über dem Arkadenbogen der Mariennische zusammenlaufen. Die zehn anderen Wimpergspitzen links und rechts der Christusmandorla werden von fialenschlanken Skulpturen musizierender Engel überhöht, die in ihrem heiteren Kontrast zwischen rotem Sandstein und grünlicher Patina (Flügel und Heiligenscheine) zu den schönsten Details der Münsterfassade gehören.

          Das Jahr 1382 stellt eine Zäsur in den Arbeiten am Westbau dar. In diesem Jahr ging die Bauleitung an Michael Parler aus Freiburg über. Dies ist bedeutsam, denn er gehörte der weitverzweigten Baumeister- und Bildhauerdynastie der Parler an, die, von Prag ausgehend, ihre künstlerischen Ideen und ihre ganz eigene Ausdruckssprache in ganz Europa verbreiteten und umsetzten. Michael Parler wird es daher auch zugeschrieben, daß das Glockenhaus des Straßburger Münsters stilistisch so stark von der übrigen Fassade abweicht. In mancherlei Hinsicht scheinen sich hier die bisherigen Gestaltungsprinzipien geradezu ins Gegenteil umzukehren. Plötzlich tritt die nackte, undekorierte Wand an der Fassade hervor. Jegliche plastische Wirkung, wie im Portalgeschoß durch das Harfenmaßwerk so kunstvoll erreicht, ist bewußt vermieden. Die Wandfläche dieses Fassadensegmentes ist nicht einmal, wie sonst praktiziert, weitmöglichst durch Fensteröffnungen aufgebrochen. Die beiden Fenster, die optisch durch Schallblenden verschlossen sind, reichen nur über etwas mehr als die Hälfte der Geschoßhöhe.

          Oben darüber, im Bereich der verbleibenden Wandfläche, sind sie von grob gestalteten Blendwimpergen überfangen. Deren Pfosten, Schrägen und Spitzen sind mit Skulpturen besetzt, die, genau wie ihre Baldachine, wie vor die Wand geklebt wirken. Die Pfosten selbst sind schlichte sechseckige Wandvorlagen, die Figurensockel kaum mehr als sechseckige, vorkragende Steinplatten. Die Figuren, die über den Wimpergschrägen stehen, haben mit diesen gar keine statische Verbindung. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, daß sie auf etwas oberhalb aus der Wand springenden Konsolen fußen.

          Das Bildprogramm zeigt, auf der Fiale des Mittelpfostens zwischen den beiden nebeneinanderliegenden Wimpergen, einen sitzenden Wundmal-Christus, dem ein (scheinbar freischwebendes) Schwert "aus dem Mund fährt". Zwei Figuren in den Giebelfeldern der beiden Wimperge, Maria links (vom Betrachter aus gesehen) und Johannes der Täufer rechts, beide kniend und fürbittend, vervollständigen die klassische Deesis des Jüngsten Gerichts. Links und rechts, auf den äußeren Wimpergfialen, halten Engel die Leidenswerkzeuge, und oben auf den Wimpergschrägen stoßen vier weitere Engel in körperlange Posaunen. Bemerkenswert sind die Figuren in den Nischen der äußeren Wimpergpfosten, auf der Höhe der Schallöffnungen: hier finden wir ein Tetramorph, ein Ensemble aus vier Gestalten, die die Evangelisten repräsentieren. Ihnen sind aber nicht, wie sonst üblich, ihre bekannten Attribute in Kleinformat beigestellt (also Stier, Löwe, Adler und Mensch/Engel), sondern die Evangelisten selbst sind in Wesen verwandelt, die zwar menschliche Gestalt, aber die Köpfe ihrer Attribute haben und darüber hinaus mit Flügeln versehen sind.

          Der Betrachter, der unten auf dem Münstervorplatz steht und nicht auf einem diesem Fassadenteil einmal zufällig vorgehängten Baugerüst, wird all diese Figuren kaum erkennen, geschweige denn zuordnen können. Viel eher werden ihm die majestätischen, lebensgroßen Reiterstandbilder ins Auge fallen, die den Westbau auf vier Seiten und in zwei verschiedenen Höhenlagen umgeben. In jeden Strebepfeiler sind, etwa auf den Höhen der beiden mittleren Geschoßgrenzen, gewaltige, jeweils etwa sechs Meter lichte Höhe aufweisende Tabernakel integriert, innerhalb derer insgesamt 20 Könige auf ihren Rossen gemächlich in die Ferne davonzureiten scheinen. Die Pferde sind so realistisch in Bewegung, daß ihr Standort in dieser Höhe mehr als unwirklich erscheint. Auf den Spitzen der Tabernakeldächer stehen jeweils weitere, diesmal schmalere, aber nicht minder hohe Tabernakel, deren vier stabschlanke Tragsäulchen je einer lebensgroßen Heiligenfigur Schutz bieten. Und dann wird das, was so unwirklich aussieht, plötzlich wieder ganz realistisch: Störche stehen, ganz naturalistisch skulptiert, auf einigen Giebeleken der Tabernakeldächer! Erst haben wir nur einen gesehen und es kaum glauben können, und dann, nach einigem Suchen, werden es immer mehr. In natürlicher Größe, auf Beinen so dünn wie Eisenstangen, den Kopf mit dem langen Schnabel in die Ferne gerichtet, stehen sie reglos, im Licht der Abendsonne in den Farben des rötlichen Sandsteins schimmernd, oder aber als nächtliche Silhouette vor einem farblosen Mondrund. Sie scheinen zu warten. Sie scheinen Zeit zu haben, Jahrhunderte lang.

 

 

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