Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XXVI. Die Turmhalle

 

Der soeben beschriebe, dem Langhausstil angepaßte Gurtbogen im Durchgang zur Turmhalle ist, genau wie die ihn tragenden Pfeiler, nur eine Vorlage vor dem eigentlichen und natürlich ungleich massiveren Gurtbogen der Turmhalle selbst. Dieser setzt, was die vorhangähnlichen seitlichen Stützen schon ahnen lassen, deutlich höher an als der Langhausbogen. Tatsächlich ist das mittlere Turmjoch sechs Meter höher als das Mittelschiff des Langhauses. Auch die seitlichen Turmjoche überragen ihre Pendants im Langhaus, sie erreichen aber nicht die Höhe des Langhausmittelschiffes. So findet sich also, genau wie beim Vergleich von Chor und Langhaus, im Innenraum eine Entsprechung zu der auch im Äußeren deutlich größeren Dimension des Westbaus gegenüber dem Langhaus.

          Insgesamt zeigt das Innere des Münsters also eine gestaffelte Steigerung der Raumhöhe vom Chor bis zum Narthex. Unterbrochen wird dieser Fluß nur durch die Vierungskuppel, deren gewaltige innere Raumhöhe demjenigen Akzent entspricht, den ihre Kuppel der Proportionierung des Außenbaus verleiht.

          Übrigens läßt sich gerade am Vergleich von Vierungspfeiler und etwa gleichstarkem Turmpfeiler der Fortschritt studieren, den die Baukunst innerhalb der knapp hundert Jahre zwischen ihrer Entstehung gemacht hat. Zwar waren auch bei ersterem bereits Säulenvorlagen vor den massiven Kern gestellt. Wer den Pfeiler betrachtet, wird allerdings gewahr, daß es nur ansatzweise gelungen ist, dessen Schwere zu verdecken. Die Vorlagen selbst sind sehr massig, und auch der hohe, breite Sockel strahlt keinerlei als Leichtigkeit aus. Ganz anders der Turmpfeiler, der an jeder seiner Seiten mit anderen illusionistischen Effekten spielt. Gegenüber der bereits erwähnten, dem Langhausstil angepaßten Pfeilervorlagen sind, auf der Westseite der Turmpfeiler also, die Arkadenbögen zwischen Mittel- und Seitenjoch der Turmhalle geradezu in der Art von Gewändeportalen gestaltet. In diagonaler Anordnung stellt sich dem Betrachter von jeder Seite aus eine Folge von sieben Säulenvorlagen am Turmpfeiler dar, auf der gegenüberliegenden Seite der Arkadenöffnung, am entsprechenden Pfeiler an der Westwand der Turmhalle, sind es immerhin noch fünf. Die Sockel sind auf sehr niedriger Höhe gehalten.

          Die Turmjoche sind nicht nur länger und breiter (letzteres nur in den Seitenschiffen) als im Langhaus, sie sind auch ganz anders eingewölbt. Im Gegensatz zu den durchweg vierteiligen und mit Schlußsteinen verzierten Gewölben im Langhaus werden ihre riesigen Schlußringe, zusätzlich zu den vier Diagonalrippen, von vier weiteren, im Grundriß rechtwinklig auf den Spitzen der Arkadenbögen ansetzenden Rippen getragen, so daß jeweils achtteilige Gewölbe entstehen.

          Erstaunlicherweise sind aber auch die Außenwände der Turmhalle nach allen Seiten hin aufgelöst. Während sich nach Westen die drei Portale öffnen, zusammen mit der über dem Mittelportal liegenden großen Rose, sind Nord- und Südwand mit je einem großen Fenster durchbrochen. Auf diese Weise ist die Turmhalle natürlich belichtet und gibt einen Teil des Lichtes, insbesondere der Fensterrose, an das westliche Langhaus weiter. Auch der Westbau ist also, ganz nach gotischer Manier, in ein System von Pfeilern und Öffnungen zerlegt, das ein Erscheinen geschlossener Mauerflächen auf das notwendige Minimum reduziert.

          Die seitlichen Fenster in den äußeren Turmjochen geben diesen Raumteilen den Eindruck von Langhaus-Seitenschiffjochen. Verblüfft sind wir aber, wenn wir im Mitteljoch der Turmhalle nach oben schauen, denn hier sehen wir, in ihrem "Hochschiff", ebenfalls zwei seitliche Fensteröffnungen, durch die Licht hereinfällt. Wie ist das möglich, fragen wir uns? Schließlich überragt doch im Außenbau der Turmhalle nicht das Mittelschiff die Seitenschiffe, wie im basilikalen Langhaus, wodurch eine Möglichkeit der Belichtung gegeben wäre, sondern auf den Seitenjochen des Narthex stehen die beiden seitlichen Turmunterbauten des Münsters. Wir lassen alles stehen und liegen und begeben uns nach draußen, auf den Vorplatz. Wir treten so weit wie möglich von der Münsterfassade zurück, wobei wir die schwarzen, von mehreren Seiten gleichzeitig auf uns zustürzenden Schirmhutverkäufer, die uns immer auf Anhieb in der richtigen Sprache anreden, zu ignorieren versuchen. Nachdem wir uns auch durch das Blitzlichtgewitter japanischer Taschenfotos hindurchgekämpft und bis zu dem Punkt vorgearbeitet haben, wo dieses am heftigsten knistert, drehen wir uns um und schauen auf den oberen Bereich des Westbaus. Das ist es also! Die Unterbauten der Türme, links und rechts des Narthexhochschiffes, sind von großen Öffnungen durchbrochen und somit teilweise durchsichtig. Sie lassen also Licht in ihr Inneres, das über die Fensteröffnungen des Hochschiffes - als Licht zweiten Grades sozusagen - weiter bis in die obere Turmhalle vordringen kann!

          Alle Prinzipien gotischer Wandauflösung können nicht das statische Faktum aus der Welt zu räumen, daß auf den Wänden und Pfeilern der Turmhalle ein gewaltiges Gewicht ruht. Ein gewisses Maß an Wand bleibt also hier notwendigerweise erhalten und sorgt dafür, daß die Belichtung der Turmhalle nicht so weit geht, wie sich das ein gotischer Baumeister wünschen könnte. Die Fenster der Seitenjoche sind vergleichsweise schmal, und auf der Westseite der Turmhalle verbleiben weite Mauerpartien geschlossen. Aber wo keine Möglichkeit für Fenster bestand, haben sich die Baumeister der Turmhalle mit Blendfenstern beholfen. Praktisch alle Wandflächen der Turmhalle - bis hinauf ins Hochschiff - sind mit ihnen überzogen. Blendmaßwerk ist es auch, das aus den schmalen seitlichen Fensteröffnungen mehr macht: die Statik erlaubte hier nur, die Hälfte der jeweiligen Seitenjochwand zu öffnen; das Maßwerk zeichnet jedoch ein Fenster auf die gesamte Jochlänge der Wand: von seinen insgesamt acht Bahnen sind die inneren vier echte, die zwei äußeren auf jeder Seite jedoch nur Scheinfenster, und auch die Maßwerkformen oberhalb der Lanzetten sind auf dieselbe Weise mittig zwischen echtem und Blendfenster zerschnitten. Wieder entsteht mit dieser Anordnung der Eindruck eines bedauerlichen, aber mutmaßlich nur vorübergehenden und deshalb nicht so schwerwiegenden Zustands: die vier äußeren Fensterbahnen sind zwar gerade jetzt nicht geöffnet, aber eigentlich könnten sie es sein, denn die Fenster sind ja offenkundig "vorgesehen".

          Die Einheit von Langhaus und Narthex wird auch dadurch angestrebt, daß sich unterhalb der seitlichen Fenster der Turmhalle derselbe Laufgang entlangzieht wie unterhalb der Seitenschiffenster des Langhauses. Auch seinem Sockel sind Arkaturen vorgeblendet, die mit hohen, durchbrochenen Wimpergen bekrönt und in den Zwickeln teilweise skulptiert sind. Dieselben Arkaturen finden sich darüber hinaus an der Westwand der Turmhalle, wo sie den unteren Teilen der hohen Blendfensterlanzetten, die links und rechts aller drei Portale aufsteigen, vorgestellt sind. Diese Arkaturen verbinden also nicht nur Langhaus mit Turmhalle, sondern auch Nord-, West- und Südwand des Kirchenraumes miteinander.

          Mehr noch: wir werden das Motiv auch auf der Außenwand der Westfassade wiederfinden, so daß es schließlich auch zur Einheit von Innenraum und Außenbau beiträgt.

          Um nun aber das eindrucksvollste Element des Narthex zu betrachten, müssen wir noch einmal umkehren und zur Vierung des Münsters zurückkehren. Von hier aus sehen wir die große Fensterrose der Westwand so eingeschrieben, daß sie gerade unterhalb des letzten Langhausgurtbogens (des den Turmpfeilern vorgeblendeten!) vollständig sichtbar ist. An einem Sonnentag und zu nachmittäglicher Stunde sollten wir das stille, bewegungslose Schauspiel in uns aufnehmen, das als filigrane Maßwerkform und zartfarbenes Glas in dieser Wand verewigt ist.

 

 

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