Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

XXV. Ein fast geöffneter Vorhang: Vom Langhaus zum Westbau

 

Unmittelbar nach Fertigstellung des Langhaues mit dessen westlichstem Joch begannen im Jahre 1277 die Arbeiten am letzten und gewaltigsten Teil der neuen Bischofskirche, dem Westbau. Hatte schon das gotische Langhaus gegenüber dem romanischen Chor in Bezug auf die Dimensionen einen so großen Sprung gemacht, daß sich beide Baukörper und Raumteile nur noch mit Mühe vermitteln ließen, so gilt dies noch einmal für den Übergang vom Langhaus zum Westbau. Letzterer ist von einer derartigen Monumentalität, daß er das Langhaus im buchstäblichen Sinne in den Schatten stellt. Wir haben ganz zu Beginn die Größenunterschiede zwischen Langhaus und Westbau schon am Grundriß des Münsters abgelesen, aber um uns einen wirklichen Eindruck von ihnen zu machen, müssen wir uns das Münster aus größtmöglicher Entfernung, und zwar von der Seite aus ansehen, zum Beispiel von dem großen, freien Parkplatz auf der Place de l'Étoile. Mit der Sicht auf den Baukörper des Münsters als Ganzem wird die dreifache Abstufung seiner Dimensionen deutlich, und wir erkennen das Langhaus jetzt in seiner Mittlerstellung zwischen kleinem Chor und riesenhaftem Westbau.

          Aber noch etwas anderes fällt aus der Ferne auf: die Bedeutung des Vierungsturmes für die Gesamtproportionierung der Kathedrale. Indem er das Langhaus deutlich überragt, vermittelt er dieses, in der Art einer Gelenkstelle, nicht nur mit den anderen daran angrenzenden Baukörpern (denn das Langhausdach ist auch deutlich höher als diejenigen der Querhausflügel), sondern er bildet vor allem ein gewisses Gegengewicht zu der extremen "Kopflastigkeit" des Westbaus. Der Vierungsturm, über dessen Schwere und Monumentalität wir uns bei der Betrachtung der Ostteile des Münsters vielleicht etwas gewundert haben, stellt sich jetzt als ein unverzichtbares Element für die Balance des Gesamtbauwerkes heraus. In der Silhouette des Münsters gibt er Kunde davon, daß hier, in einiger Entfernung vom monumentalen Westbau, ebenfalls noch Raumteile von Bedeutung vorhanden sind.

          Um auch in Bezug auf diesen letzten Bauteil des Münsters (den Westbau) wieder nach dem - für eine plastisch-anschaulich nachvollziehbare Beschreibung wohl einzig möglichen - Prinzip des "Vom Einfachen zum Komplizierten" und "Vom Kleinen zum Großen" voranzuschreiten, wenden wir uns zuerst dem Innenraum des Westbaus zu. Wir wollen sehen, wie sich dieser Raumteil an das bisher errichtete Gefüge aus Chorapsis, Querhausflügeln, Vierung und Langhaus, mit Mittel- und Seitenschiffen, anschließt.

          Die Baumeister haben sich alle Mühe gegeben, die Turmhalle (auch Turmjoch, Vorhalle oder Narthex genannt) weitmöglichst in das Raumgefüge zu integrieren, das durch das angrenzende Langhaus vorgegeben war. Und um es gleich vorwegzunehmen: dies ist ihnen auch auf erstaunlich glückliche Weise gelungen. Natürlich darf man sich keine Illusionen machen: das Turmjoch eines derart gewaltigen Westbaus kann niemals wirklich wie ein Langhausjoch aussehen oder wirken, oder dieser Wirkung auch nur nahekommen. Um aber die Leistung der Straßburger Baumeister würdigen zu können, muß man sich vergegenwärtigen, welchen Weg die Tradition des Westbaus im deutschen Kirchenbau bisher genommen hatte: in den frühen Großkirchen war die Turmhalle vom Langhaus aufgrund der schweren Wandmassen, die den Überbau zu tragen hatten, noch völlig abgetrennt; erst ganz allmählich öffnete sie sich zum Langhaus, d.h. die Durchbrüche ihrer meterdicken Wände zum Langhaus hin wurden nach und nach langsam vergrößert.

          Die Dimensionen des Straßburger Westbaus sind im mittelalterlichen Reichsgebiet einzigartig. Umso erstaunlicher ist es, daß dieser gigantische Baukörper im Innern zum Langhaus hin vollständig geöffnet werden konnte und auf dieser Seite einzig von den beiden Turmpfeilern getragen wird.

          Wir haben nun vielleicht die Turmpfeiler anderer deutscher, der Westbautradition verpflichteten Kirchen vor dem inneren Auge: achtseitige einfache Monumentalpfeiler etwa, mit einem Durchmesser, der denjenigen der Langhauspfeiler um das Mehrfache übersteigt, und die dadurch von einer so abrupten Schwere sind, daß es dem Betrachter kaum einfällt, in der Turmhalle eine Verlängerung der Langhausschiffe zu erkennen. Viel eher meint er, eine Art von archaischem Monstrum vor sich zu haben, an das die viel filigraneren Langhausräume auf merkwürdige Weise angekoppelt sind.

          Vor dem Hintergrund derartiger Vergleichsbilder betrachten wir nun die Straßburger Turmpfeiler vom Mittelschiff des Langhauses aus: da scheinen zwei normale Langhauspfeiler zu stehen, hinter denen sich lediglich von den Seiten her eine Art von "Vorhang" etwas in die Öffnung hineinschiebt, die durch den von ihnen getragenen Arkaden-(Gurt-)bogen gebildet wird. Die eintretende Verschmälerung der Durchsicht durch diesen Bogen scheint dabei von einer nur vorübergehenden Art zu sein, die den Betrachter nicht weiter zu stören braucht; denn diese "Vorhänge" geben den Anschein, als könne man sie jederzeit wieder zurückziehen und die Sicht in die Turmhalle vollständig freimachen.

          Tatsächlich handelt es sich bei diesen "Vorhängen" um einen bewußt gestalteten illusionistischen Effekt. Die Turmpfeiler zeigen, je nachdem, von wo aus man sie betrachtet, ganz unterschiedliche Ansichten. Zum Langhaus hin ist ihrem massiven Kern ein Langhaus-Arkadenpfeiler vorgelegt. Von den beiderseits dieser Vorlage überstehenden Partien des Pfeilerkerns sieht der Betrachter immer nur einen, den zum Mittelschiff oder den zum Seitenschiff hin gewandten, je nachdem, wo er steht. Diese Partien sind zudem als weitgehend glatte Mauerflächen belassen, im Gegensatz zu der durchgehenden Profilierung der Langhauspfeiler durch Säulenvorlagen. Geradezu genial ist, wie die herausstehenden Pfeilerkerne im oberen Bereich hinter den Bögen des zum Langhaus gewandten Gurtbogens geradlinig weiter hochsteigen, eben wie Vorhänge hinter einer spitzbogigen Bühnenöffnung. Der helle Verputz der Langhaus-Gewölbekappe oberhalb des Gurtbogens, im Kontrast zu den dunklen Mauerpartien der Vorsprünge, unterstützt noch die Suggestion, daß der Durchlaß zur Narthex "in Wahrheit" die Breite eines normalen Langhaus-Mittelschiffgurtes hat.

 

 

Weiter mit dem nächsten Kapitel

 

 

Die Seiten und ihre Inhalte sind urheberrechtlich geschützt! Copyright © Roland Salz 2000 - 2024

Version 21.1.2024

Impressum   Datenschutzerklärung