Architekturbeschreibung
Unsere Architekturbeschreibungen verfolgen einen doppelten Zweck, den der Dokumentation und den der Meditation. Einerseits rückt die Beschreibung das Bauwerk selbst in den Mittelpunkt, indem sie es in seinem Aufbau, seiner Funktion, seinen facettenreichen Erscheinungs-weisen von außen und innen sowie in seinen vielfältigen Beziehungen zum umgebenden Stadt- oder Landschaftsraum beleuchtet. Anderer-seits steht die Beschreibung, und mit ihr das beschriebene Gebäude, in einem Bezug sowohl zum Autor als auch zum Leser. Für beide ist sie bewußt als Meditation gedacht, wobei unter diesem Begriff nicht die westliche Interpretation einer gedanklichen Reflexion, sondern die östliche einer anhaltenden Betrachtung mit den Sinnen verstanden werden soll. Lassen wir den Aspekt des Autors hier beiseite, so findet sich in der Beschreibung eine Leerstelle angelegt, die Wolfgang Iser als den „impliziten Leser“ bezeichnet hat. Gemeint ist damit das dem Text eingeschriebene Angebot an den realen Leser, eine bestimmte Pers-pektive zu diesem Text aufzusuchen. In unserem Fall handelt es sich um eine meditative Perspektive, oder besser gesagt Einstellung, die der Leser, wenn er will, im Laufe der Lektüre zum Bauwerk als dem Gegen-stand der Beschreibung entwickeln kann.
Entlang der sequentiellen Abfolge der sprachlichen Beschrei-bung erstreckt sich das Lesen über einen Zeitraum. Versteht es der Text, das Interesse an dem Bauwerk zuerst zu wecken, dann zu halten und im Verlauf zu intensivieren, so ermöglicht er dem Leser, eine zunehmend größere Aufmerksamkeit und konzentriertere Hinwendung zu dem Gebäude entstehen zu lassen. In solch prozeßhaftem Tun, dem „Akt des Lesens“, wie Iser sagen würde, kann der Gegenstand der Beschreibung für den Leser zum Objekt einer gegenständlichen Meditation werden. Meditieren ist ein Vorgang, der in der Zeit stattfindet und Zeit braucht, kein bloß momenthaftes Geschehen. Es kann sich auf einen noch so kleinen Gegenstand richten und beliebig lange bei ihm verweilen, etwa den eigenen Atemzügen oder einem einzigen, stati-schen Punkt im visuellen Gesichtsfeld, ja, der Gegenstand kann eine bloße weiße Wand sein. Gerade in solcher Reduktion wird die Medi-tation besonders effizient. Ein ganzes Bauwerk ist demgegenüber schon sehr komplex. Wie kann die Meditation hier funktionieren? Vielleicht, indem sich der Betrachter nach und nach so viele Aspekte und Details wie möglich davon bewußt macht. Aber es reicht nicht, wenn die Beschreibung das Ganze des Gebäudes in seine Bestand-teile zerlegt. Nach der zentrifugalen muß sie eine umkehrende, zentripetale Kraft entfalten, die die Einzelteile wieder zu einem Ganzen zusammenfügt – diesmal in der Vorstellung des Lesers.
Wer will, kann beim Lesen Bildmaterial oder Zeichnungen des Bauwerks zu Hilfe nehmen, dies alles ist heute leicht verfügbar. Aber selbst damit bleibt das Gesamtbild, das der Leser vom beschriebenen Bauwerk entwickelt, zum ganz überwiegenden Teil ein Produkt seiner Vorstellungskraft. Denn gerade ein architektonisches Werk zeichnet sich in seiner Räumlichkeit und in der Tatsache, daß es sowohl von außen als auch innen betrachtet und begangen werden kann, dadurch aus, daß es sich zu keinem Zeitpunkt aus einer einzigen visuellen Perspektive heraus erfassen läßt. Mehr noch, es bleibt immer eine Einheit, ein Ganzes, das niemals mit der Summe von noch so vielen Einzelansichten, seien es Fotos, Grund- oder Aufrisse, identisch ist oder von ihr erschöpfend dokumentiert werden kann. In dem Maße, in dem im Leser die Vorstellung des Bauwerks entsteht, wird es ihm bewußter und gegenwärtiger. Dieses Bewußtsein des Gebäudes aber ist nicht abstrakt, sondern anschaulich. Obwohl nur in der Vorstellung, so ist es doch Sinnesbewußtsein. Als meditatives Bewußtsein hat es allgemeine Natur: es bleibt nicht an einen bestimmten Gegenstand ge-bunden, sondern überschreitet ihn schließlich, indem es sich von ihm ablöst und zu freiem Bewußtsein wird, zu Bewußtsein schlechthin.
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