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Zen in der Kunst der Architekturbetrachung
Those who turn from delusion back to reality, who meditate on walls, the absence of self and other, the oneness of mortal and sage, and who remain unmoved even by scriptures are in complete and unspoken agreement with reason.
Bodhidharma, zitiert nach Red Pine, The Zen Teaching of Bodhidharma
Architektur ist, über ihre jeweils spezifische Funktion hinausgehend, in einen Stadt- oder Landschaftsraum gestellt, um in diesem und mit die- sem zusammen wahrgenommen zu werden. Sie bildet einen Teil unse- rer Lebenswirklichkeit nicht nur, indem sie uns Behausungen für die verschiedensten Zwecke bereitstellt, sondern auch als etwas, das sich auf vielfältige Weise und in jedem Moment neu mit den Sinnen erleben läßt.
Die bewußte Betrachtung von Architektur zielt einerseits auf das architektonische Objekt, das sie kennenlernen und verstehen, in ihrem künstlerischen Gehalt erschließen und würdigen will. Andererseits ist aber auch der Betrachter selbst als Teil der Beziehung, die das Wahrnehmen darstellt, immer gegenwärtig, und man könnte sagen, das Objekt wirkt – durch eben die Betrachtung – auf ihn zurück, indem es in ihm ein ästhetisches Erlebnis auslöst. Die Intensität dieses ästhe- tischen Erlebnisses, das eine Architekturbetrachtung bedeuten kann, hängt – wie bei jeder anderen Kunst- oder bei einer Naturbetrachtung – ganz entscheidend davon ab, wie stark und wie anhaltend sich der Betrachter auf das Objekt, in diesem Falle ein Gebäude, einzulassen vermag. Je länger und je gründlicher er sich auf das Objekt konzen- triert, desto umfassender kann er es in sich aufnehmen, desto mehr kann er von seinen ästhetischen Intentionen erkennen und desto eher kann er zu einer Beurteilung des Objekts gelangen, die diesem wirklich in seiner Gesamtheit gerecht wird. Aber mit der Intensität des Betrach- tens gewinnt dieses auch einen meditativen Charakter. Aus dem ästhetischen Erlebnis wird ein sinnlich-ganzheitliches Erleben, das schließlich über das konkrete Objekt hinausweist, ja sogar über den Betrachter selbst, indem es zu einem gewissen Grad von Einssein von beiden, von Subjekt und Objekt führt und diese gewohnte gedankliche Trennung aufzuheben beginnt.
In einer Zeit, in der die meisten Menschen nicht mehr inmitten der Natur, sondern in städtischen Ballungsräumen leben, drängt sich Archi- tektur als Betrachtungsgegenstand und damit auch als Objekt von Meditation auf. Die Intention von Architektur, Fokus für die Wahrnehmung zu werden, und zwar nicht nur eine oberflächliche, sondern eine von tiefster, nicht selten religiöser Intensität geprägte, ist dabei uralt. Schon bei den griechischen Tempeln geht es weniger um den Schutz der Altäre vor Regen als darum, eine Gottheit wenigstens indirekt, durch ihre Stätte der Verehrung, weithin sichtbar zu machen, ihr in Stadt oder Landschaft gleichsam ein Gesicht zu geben, eine Gestalt, der man sich ehrfürchtig nähern und die man in Andacht betrachten kann. Christliche Kirchen sind deutlich stärker funktional geprägt, sie sind entstanden aus dem Bedürfnis, einen Versammlungsraum für die Mitglieder der Gemeinde zu schaffen. Aber auch für sie entwickelten sich bald architektonische Konzepte, die über solch einfache Funk- tionalität weit hinausgehen. Dem Kirchenraum wurde die Form des Kreuzes eingeprägt, eine Kirche sollte zum „Haus Gottes“ werden, ein „Abbild des Himmlischen Jerusalem“ sein, manche von ihnen schuf man gar zur „Steinernen Bibel“. Architekturbetrachtung war im Mittelal- ter von religiösem Empfinden kaum zu trennen, und dessen Tiefe führ- te dazu, daß Kirchen überall in Europa zu den wichtigsten architektonischen Aufgaben wurden, daß mit ihnen Bauwerke entstanden, die zu den größten, komplexesten und langlebigsten zählten. Auch heute noch sind bei uns Kirchen die mit Abstand am meisten betrachteten Gebäude. Die Besichtigung mindestens einer von ihnen stellt für die allermeisten einen zentralen Bestandteil beim Besuch einer fremden Stadt dar (und so nimmt es nicht Wunder, daß auch die Auswahl der dargebotenen Beschreibungen entsprechend groß ist, sie finden sich in beinahe jedem Reiseführer, wenn auch zumeist in stereotyper, liebloser Form). Die Motivation für solche Kirchenbesichtigung ist aber oftmals nicht mehr die christlich-religiöse, sondern eine rein ästhetische; die Wahrnehmung hat sich weitgehend vom religiösen Empfinden befreit. Das Gesehene wird nach Kriterien beurteilt wie der Reinheit oder Vollkommenheit eines Baustils oder eines Grundrißschemas, der spe- zifischen Eigenartigkeit einer Schöpfung oder eines Architekten, nach dem Raumeindruck, nach ungewohnten Perspektiven oder Effekten.
Meist stellt das Alte und Älteste für die Architekturbetrachtung noch immer den größten Anreiz dar. Neben den Kirchen fallen hier etwa alte Fachwerkhäuser ins Auge, manchmal in konzentrierter Form als einheitlicher Straßenzug, ganzes Dorfensemble oder Stadtbild, aber auch schön gelegene Burgen und prunkvolle Schlösser, bei deren Besichtigung man sich auf nostalgische Zeitreise begeben kann. Die Betrachtung und intensive Auseinandersetzung mit moderner Archi- tektur ist dagegen noch weit weniger verbreitet, obwohl die Zahl und Qualität der dafür potentiell zur Verfügung stehenden Objekte heute beachtlich und im Stadt- und Landschaftsbild nicht mehr zu übersehen ist.
Alle architektonischen Objekte, ob christliche Kirche oder Kloster, Schloß oder Stadtpalais, Rat- oder Zunfthaus, Fabrik- oder Büro- gebäude, Museum oder Bahnhof, mittelalterliches Fachwerkwohnhaus, Gründerzeitvilla oder moderne Wohnbebauung, genauso wie Ensem- bles, Plätze oder Gärten, lassen sich jedoch auch als Gegenstand bewußter Meditation nutzen, entweder als Ganzes oder in Teilen. Man kann versuchen, sich intensiv auf die Fassade einer Kirche einzulassen, oder nur eine einzelne Skulpturengruppe im Rahmen eines Gewän- deportals. Vielleicht erscheint ein bestimmtes steinernes Fensterkreuz mit seinen profilierten Stäben interessant und reizt zu einer längeren Betrachtung, oder die Formgebung des Zugangs zu einem Museums- bau von Frank O. Gehry. Oder vielleicht ist es auch nur eine weiße Wand, die durch lange, anhaltende Betrachtung zu einem Mandala wird und das Bewußtsein des Betrachters durch die Intensität seines eige- nen Betrachtens verändert.
Die Meditation auf ein Gebäude als Ganzes stellt – wenn sie für ihn auch im Grunde nicht gewinnbringender ist als diejenige auf eine weiße Wand! – an den Betrachter die größte Herausforderung dar. Als dreidimensionales Gebilde von weit übermenschlichen Ausmaßen und erheblicher Komplexität, das zudem nicht nur eine Außen- sondern auch eine Innenansicht bietet, läßt es sich nicht von einem einzigen Standpunkt aus gleichzeitig insgesamt, sondern lediglich von einer Vielzahl von Standpunkten aus partiell und sukzessive visuell erfassen. Auch reicht der optische Sinn für das Erleben eines Bauwerks gar nicht aus: hinzu treten akustische und haptische (Tastsinn für Oberflä- chenstrukturen, körperliche Eindrücke des Begehens des Bauwerks, etc.) Wahrnehmungsmöglichkeiten. Zudem läßt sich ein architektoni- sches Objekt auch nicht losgelöst von seiner Umgebung betrachten. Es nimmt einen bestimmten Platz in einem landschaftlichen oder städ- tischen Zusammenhang ein, zu dem es in einer Vielzahl von Relationen steht. Umfeld, Beziehungen und das Bauwerk selbst sind außerdem zeitlichen Veränderungen unterworfen. Diese zeitlichen Veränderungen können bekanntlich, – beispielsweise bei großen, langlebigen Kirchen- bauten – derart komplex sein, daß sie bei der Betrachtung eines Bauwerks immer mitgedacht werden müssen und gleichsam die vierte, jetzt nicht mehr unmittelbar wahrnehmbare Dimension des Gebäudes darstellen. Erst diese meditative Versenkung in das Bauwerk als Ganzes versetzt jedoch den Betrachter in die Lage (nachdem er es also mehr oder weniger geschafft hat, mit ihm in seiner Gesamtheit eins zu werden), dieses in seinem vollen künstlerischen Ausdruck zu er- schließen.
Schon bei der realen Besichtigung eines Bauwerkes kommt der Betrachter nicht ohne Zuhilfenahme seiner Vorstellungsfähigkeit aus. Da das Gebäude von keinem Blickwinkel aus vollständig erfaßbar ist, kann sich der Betrachter dessen räumliche Gesamtheit jederzeit nur im Geiste zusammensetzen, aus den vielen einzelnen, erlebten Ansichten. Gleiches gilt für die Veränderungen des Bauwerks in der Zeit: auch seine verschiedenen historischen Baustufen müssen aufgrund der von ihnen jeweils noch vorhandenen, sichtbaren Reste im Geiste vorge- stellt werden.
Oftmals wird man sich ein Gebäude jedoch nicht durch die konkrete Besichtigung vor Ort, sondern anhand einer monographischen Dokumentation zu vergegenwärtigen suchen. Dies kann zur Vorberei- tung auf eine Besichtigung geschehen oder aber auch als Nachberei- tung des bereits Gesehenen. Vielleicht hat der Interessierte aber auch gar keine Zeit oder Möglichkeit, das Bauwerk selbst zu besuchen, und die Architekturdokumentation ist seine einzige Quelle. In diesem Fall sind die ihm zur Verfügung stehenden visuellen Informationen weitge- hend auf zweidimensionale Darstellungen beschränkt. Abgesehen von den wenigen verfügbaren 3D-Animationen oder Videos sehr renom- mierter Gebäude muß er sich im allgemeinen mit Fotographien und Zeichnungen (Grundrissen, Schnitten, Ansichten) des Gebäudes be- gnügen. Bei ihrer Rezeption ist die Fähigkeit zur räumlichen Vorstellung noch wichtiger als bei der realen Besichtigung. Auch noch so gelungene Fotographien und aussagekräftige Zeichnungen lassen den dreidimen- sionalen Baukörper nämlich in keinster Weise automatisch im Bewuß- tsein des Betrachters entstehen, etwa beim bloßen Durchblättern und oberflächlichen Betrachten. Im Gegenteil, bei etwas komplexeren Ge- bäuden bedarf es intensiver Bemühungen, um sich aus dem präsen- tierten graphischen und Bildmaterial die räumliche Vorstellung des Gebäudes zusammenzusetzen.
Ein bloßes Ansehen von Fotos oder Bauzeichnungen, das nicht zum Aufbau einer räumlichen Vorstellung, einem plastischen Bewußt-sein führt, kann dem Bauwerk nicht gerecht werden und bleibt für den Rezipienten unbefriedigend, weil die Vielzahl der fotographischen oder zeichnerischen Ansichten permanent nach der Zusammenschau ruft. Denn es handelt sich bei ihnen ja nur um die verschiedenartigsten zweidimensionalen Aspekte ein und desselben dreidimensionalen Ge-bildes. Wer sich aber ein Bauwerk aufgrund einer Bilddokumentation räumlich vorstellen will, der muß sich an die mühevolle Arbeit machen, die Ansichten, Schnitte und Grundrisse zu lesen, d.h. in die intendierte dreidimensionale Vorstellung umzuwandeln und sodann den Fotogra- phien zuzuordnen. Er muß so lange die vielfältigen Berührungs- und Schnittpunkte der Zeichnungen und Fotos untereinander aufspüren, bis er schließlich zu dem räumlichen Vorstellungsganzen des Gebäudes gelangt. Der renommierte Kunsthistoriker Hans Sedlmayr (1896-1984) schreibt in seinem Buch „Österreichische Barockarchitektur“ über das Betrachten von Architekturfotographien: „… Abbildungen machen sich gegenüber dem Objekt zu einer Phantomexistenz unabhängig, wenn man sie nicht zum Aufbau einer Vorstellung des wirklichen Gebäudes benutzt. Deshalb dürfen Abbildungen nur als Anweisungen aufgefaßt werden, eine Vorstellung von dem wirklichen Bau so weit auszu- gestalten, als es nach ihren Angaben überhaupt möglich ist, nebenbei gesagt, eine unvergleichlich reizvollere Art der Betrachtung von Architekturbildern.“
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