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I.2. Can Flor
Wir haben uns für einen der orangefarbenen Regiestühle im Freien entschieden, unmittelbar vor der Fassade der Llotja, und während wir auf den bestellten Cappuccino warten, den schwer gefüllten Tagesrucksack auf den Nachbarstuhl abgestellt, schauen wir uns um. Der Himmel leuchtet wolkenlos, aber die Sonne hat die Plaça Llotja noch nicht erreicht, ist noch hinter der gegenüberliegenden Häuserfront verborgen. Das heißt, die Spitzen der schlanken, hohen Palmen sind schon von ihr beschienen, wie das bewegte Schattenspiel auf der Fassade der Llotja zeigt, und das helle Grün der Wedel vor dem Blau des Morgenhimmels lenkt den Blick unmerklich zu der einzig offenen Seite des Platzes hinüber, der nach Süden gerichteten, wo neben einem riesigen Gummibaum immer mehr Palmen in der Ferne auftauchen und dazwischen der eine oder andere Segelmast.
Am Stadtplan von Palma ist noch heute die gewaltige Wehranlage aus der Zeit der Renaissance ablesbar, als sternförmig gezackter Kranz, heute von Hauptverkehrs- und Umgehungsstraßen. Dieses Bollwerk umschloß eine der größten und sicherlich auch schönsten Altstädte des europäischen Mittelalters auf ihren drei Landseiten. Auch die vierte Seite zum Meer hin war natürlich durch hohe Mauern gesichert, überragt nur von jenem Dreigestirn bestehend aus dem Palau de l’Almudaina, dem Königspalast, der imposanten, weithin sichtbaren und alles überragenden Kathedrale La Seu sowie auf ihrer anderen Seite dem Palau Episcopal, dem Bischofpalast. Aber die Wehranlage auf der Seeseite war zweigeteilt, denn eine Wasserstraße führte, unmittelbar unterhalb des Königspalasts vorbei, bis weit ins Zentrum der Altstadt hinein. Erst in den letzten Jahrhunderten wurde diese Riera, eine der vielen durch Palma verlaufenden und die meiste Zeit des Jahres ausgetrockneten Flußbette samt ihrer Mündungsbucht zugeschüttet, um die breite Avinguda d‘Antoni Maura und die oberhalb von ihr gelegene Flaniermeile des Born anzulegen. Die Rieres erfüllten einen wichtigen Zweck, nämlich die gewaltigen, aus den nahen Bergzügen kommenden Wassermassen der Sturzregen des Mittelmeerraums sicher an der Altstadt vorbei ins Meer abzuleiten. Leider gelang dies nicht immer, und dann waren Hunderte, wenn nicht Tausende von Toten zu beklagen. Bis heute existiert eine solche Riera in Palma, entlang der ehemaligen westlichen Stadtbefestigung im Verlauf des Passeig de Mallorca, und führt unterhalb einer erhaltenen Eckbastion der Stadtmauer, dem heutigen Museo del Baluard, ins Meer. Während die Römerstadt auf dem Felsplateau lag, das sich zwischen der Kathedrale und dem Cort, dem heutigen Regierungsviertel genau im Mittelpunkt der Altstadt, erstreckt, bildete sich im Mittelalter sowohl am Oberlauf als auch am Unterlauf der zentralen Riera jeweils ein Siedlungskern aus, die Vila de Dalt (Oberstadt) und die Vila d’Avall (Unterstadt). Innerhalb letzterer bildet die Plaça Llotja das Herz eines Viertels, gegenüber vom Königspalast, auf der anderen, der Westseite der Avinguda d‘Antoni Maura und unmittelbar am alten Hafen Palmas gelegen, das heute vor allem für seine zahlreiche Gastronomie und sein Nachtleben mit Bars und einem Jazz-Club bekannt ist.
Überall auf der Plaça klappert es um diese Zeit, werden Stühle aufgebaut, Tische abgewischt, Tafeln mit Speisen und Getränken ins Blickfeld derjenigen gerückt, die bald hier vorbeikommen werden, um vielleicht einen ersten Kaffee zu nehmen. Aber alles geht mit einer gewissen Gelassenheit und ohne Eile zu, denn der Gastronomiealltag ist lang in Palma, da muß man sich die Kräfte einteilen. Das Mittagsgeschäft wird erst gegen drei Uhr seinen Höhepunkt erreichen und das Abendessen nicht vor zehn.
Auf zwei Seiten wird die Plaça Llotja von vier- bis fünfstöckigen, meist schmalen und mit ihren unterschiedlichen Geschoßhöhen aneinandergebauten Bürgerhäusern umgeben, auf deren flachen Dächern Terrassen angelegt sind, die man nur aus der Vogelperspektive sieht. In den oberen Stockwerken öffnen sich die Fassaden, die in immer neuen Tönen von gelb und beige verputzt sind, entweder mit großen, meist holzgerahmten Fenstertüren auf lange, von gußeisernen Geländern begrenzten Balkonen, die so flach sind, daß man nicht auf ihnen sitzen kann, oder aber als ebenso flache, ganzflächig verglaste Erker, die im Sommer mit Vorhängen vor der Sonne geschützt werden müssen, sie im Winter aber um so tiefer ins Gebäude eindringen lassen. Sicherlich das bemerkenswerteste Exemplar dieser Bebauung ist ein Eckhaus am schmalen, dunklen Carrer Remolars, genau gegenüber vom Eingang der Llotja, das dem Zinnenkranz der spätgotischen Handelsbörse die in Stein gehauenen, in Eisen gegossenen und in Holz geschnitzten Blumenmotive des katalanischen Modernisme entgegenhält: die Can Flor.
Wer sie dicht entlang der Häuserfront kommend passiert, wird vielleicht gar nicht aufschauen, wird nichts Besonderes wahrnehmen und achtlos an ihr vorüberlaufen. Denn im unteren Teil stellt sich die anderthalb Stockwerke umgreifende dreifache Gebäudeöffnung um diese Zeit als eine Abfolge von noch verschlossenen Rolladen dar, unterbrochen von einer enormen zweiflügeligen Holztür mit gewaltigen gußeisernen Griffen. Nur eine schmale, in den rechten Flügel eingelassene Tür ist geöffnet, durch die man in ein Treppenhaus gelangt, indem man über den unter ihr verbliebenen Teil des Türflügels hinwegsteigt. Aber selbst wer im Vorbeigehen kaum den Blick vom Boden hebt, könnte bereits das kreisrunde Blütenrelief auf dem unteren Teil der beiden Türflügel bemerkt haben, gleichsam das Motto des Hauses, denn es kehrt in den vielfältigsten Variationen auf der Fassade wieder. Die vier pfeilerartig schlanken Mauerteile, die die dreifache, jeweils mit einem Korbbogen abgeschlossene Öffnung umfassen, weisen unten eine Art von Sockelzone auf, und wenn man hochblickt, so erkennt man Konsolen, die ihnen im oberen Teil vorgelegt sind und die sich ganz oben trichterförmig, wie stilisierte Blütenkelche vergrößern, um den flachen Balkon der Beletage zu tragen.
Über den beiden Rolläden links und rechts, hinter denen sich die Gastronomie betreffende Räumlichkeiten verbergen, ist auf hölzernen und außen mit Schnitzereien verzierten Decken ein Zwischengeschoß eingezogen, vielleicht mit kleinen, zu diesen Lokalitäten gehörenden Büroräumen, durch deren dunkelgrüne, verschlossene Klappläden mit den vielen Luftschlitzen man hören und sehen kann, was sich draußen zuträgt, ohne selbst wahrgenommen zu werden. In der Mitte dagegen erstreckt sich die Holztür mitsamt ihrem feststehenden Oberlicht über die gesamte Fassadenöffnung, schließt also ein Treppenhaus ab, dessen beachtliche Höhe und Repräsentanz in so erstaunlichem Kontrast zu dem kleinen Durchgang der Tür im Tor steht, wie er bisweilen bei den Feiertagsseiten eines gotischen Flügelaltars im Vergleich zu seinen Alltagsseiten auftritt.
Die drei Öffnungen sind säuberlich durch die Hausnummern 3a, 3 und 3b gekennzeichnet, und tatsächlich kehrt die Zahl drei in verschiedener Weise im Schmuck der Konsolen wieder, zum Beispiel als dreifache Kannelierung. Die Blütenrosetten tauchen in verwandelter Form im oberen Teil der Holztür wieder auf, selbst noch in winziger Größe auf den Gittern vor ihren Oberlichtfenstern, aber auch auf den steinernen Konsolen. Das Motiv des Blütenkelchs wiederum findet sich als Echo im hölzernen Mittelstab, der die beiden vergitterten Oberlichter trennt. Wie in der Art von Kapitellen sind die Blütenkelche der Konsolen durch Kämpfer vom unteren, vertikalen Bereich abgetrennt, während sie ganz oben einen Kranz von Blattmotiven aufweisen, der an den üppigen Kapitellschmuck aus der Zeit der Romanik erinnert. Tatsächlich erscheint die Pfeilerstellung jetzt wie eine Kolossalordnung, bestehend aus Basis-, Schaft- und Kapitellzone, aber eine in der Art des Jugendstils verformte, verwandelte.
Die drei Obergeschosse der Can Flor sind, wie fast alle Bürgerhäuser an der Plaça Llotja, ähnlich, aber nicht identisch aufgebaut. Die Fassade zeigt 3 ½ Fensterachsen, mit der halben Achse auf der abgerundeten Ecke zum Carrer Remolars, dies allerdings nur in den Obergeschossen. Alle Öffnungen sind an den oberen Ecken abgerundet und werden von hölzernen Fenstertüren mit grünen Klappläden verschlossen. Nur im ersten und zweiten Obergeschoß ist diesen Öffnungen in die Mittelachse ein wesentlich größerer, aber flacher Wintergarten vorgelegt, mit schwungvoll im Jugendstil verziertem eisernem Rahmen. Von diesen beiden Geschossen ist die Beletage dadurch ausgezeichnet, daß sie mit einem umlaufenden, in der Flucht des Wintergartens liegenden und nur von ihm unterbrochenen offenen Balkon ausgestattet ist, während das zweite Obergeschoß einen Balkon nur am Eckfenster trägt. Das oberste Stockwerk zeigt zusätzlich zum Eckfenster einen Balkon in der Mittelachse, über den Wintergärten.
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