Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
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Altes Rathaus, Göttingen

Altes Rathaus Göttingen 5v17

Bild: © Roland Salz 2014

IV. Die Fassden

 

Wie zu dieser Zeit üblich hat man zu Beginn des 20.Jahrhunderts auch am Göttinger Alten Rathaus die alten Putzschichten entfernt, das rohe Mauerwerk freigelegt und unverputzt stehengelassen. Bei der grundle- genden Renovierung in den siebziger Jahren wurde es dann dünn mit beiger Farbe geschlämmt. So ist heute die Struktur der Außenmauern noch gut zu erkennen: ihr Aufbau aus unregelmäßigem, lagerhaftem Kalkbruchstein zum einen, der, wie die Fassade der Johanniskirche zeigt, wo er ebenfalls verwendet, aber nicht geschlämmt wurde, eine hellgraue Farbe hat, und zum anderen aus roten Sandsteinquadern, vor allem an den Gebäudekanten (Ortsteine) sowie den Portal- und Fenstereinfassungen. Die Farb- und Formkontraste dieser beiden un- terschiedlichen Steinarten sowie die Unregelmäßigkeiten im Mauerauf- bau würden noch viel deutlicher zutage treten – wie es bei der Johan- niskirche tatsächlich der Fall ist – wären die Wände des Alten Rathau- ses nicht durch das Schlämmen einheitlich „geschminkt“. Lediglich die architektonischen Formteile wie Fenster- und Portaleinfassungen, Zinnenkranz und Ecktürmchen hat man von der Schlemmung ausge- nommen, so daß sich ihre rote Sandsteinfarbe vom Beige der Mauern abhebt und dem Bauwerk eine dezente optische Struktur verleiht.

          Die Marktfassade des Alten Rathauses zerfällt, entsprechend den beiden verschiedenartigen Teilen des Gesamtbaukörpers, in zwei ganz unterschiedliche Abschnitte. Der nördliche, sowohl höhere als auch längere Bauteil weist auf der Vorderseite eine klare Strukturierung auf, die sich jedoch, je weiter man um die Nord- und Westseite des Gebäu- des herumgeht, desto mehr aufzulösen beginnt: durch zunehmende Verschiedenheit der Fensterbreiten, ihre teilweise Vermauerung oder das Ersetzen der steinerne Fensterpfosten durch Holz. Beim südlichen, älteren Bauteil ist eine klare Struktur dagegen schon auf der Marktseite höchstens abschnittsweise zu erkennen. Immerhin wirkt die Rampe, die sich fast über die gesamte Länge der Marktfassade erstreckt, mit ihren symmetrischen seitlichen Treppenaufgängen und den beiden diese flankierenden, die Göttinger Wappen haltenden Löwen aus rotem Sand- stein, vermittelnd zwischen den beiden ungleichen Bauteilen, ebenso wie das gleichmäßig um das gesamte Gebäude herumgeführte Kaffge- sims und die bereits erwähnte, auf einheitlicher Höhe befindliche Linie aus nördlichem Gurtgesims und südlicher Traufkante.

          Der zum nördlichen, zweigeschossigen Baukörper gehörende Teil der Marktfassade wird durch große Rechteckfenster in vier Achsen gegliedert. In der zweiten Achse von Norden liegt im Erdgeschoß, von der Rampe aus zugänglich, das rechte und größere der beiden Portale des Alten Rathauses. Die Doppeltür wird von einem breiten Spitzbogen gerahmt, dessen Tympanon heute durchsichtig verglast ist. Die Fenster werden alle durch je zwei steinerne Pfosten in drei gleichbreite Bahnen geteilt, eine steinerne Sprosse im oberen Teil gibt ihnen zusätzlich waagrechte Struktur. Die Fenster des Erdgeschosses weisen eine Hö- he von über vier Metern auf – was bei ihrer Funktion zur Beleuchtung der großen Halle nicht verwundert – und ihre Stürze liegen auf einer Höhe mit dem Scheitelpunkt des nördlichen Portals. Im Mauerwerk sind über einigen der Fenster segmentförmige Entlastungsbögen zu erken- nen. Als Unregelmäßigkeit fällt auf, daß die Fenster zwar alle gleich breit und hoch sind, ihre Abstände aber variieren. Insbesondere ist das Fenster über dem Portal im Verhältnis zu den anderen Fenstern des Obergeschosses stark nach rechts verschoben, so daß sich von ihm aus gesehen links ein zu großer und rechts ein zu kleiner Abstand zum Nachbarfenster ergibt. Gleiches zeigt sich im Erdgeschoß: auch das Portal selbst ist nach rechts versetzt. Es liegt zudem – mit seiner größeren Breite – nicht genau mittig unter dem Fenster des Oberge- schosses, sondern ist noch etwas weiter nach rechts versetzt, so daß die beiden linken Begrenzungen übereinanderliegen.

          Betrachten wir den übergroßen Zwischenraum zwischen der zweiten und der dritten Achse, also links vom Portal, genauer, so er- kennen wir im Erdgeschoß eine heute zugemauerte, ursprünglich mit einem Segmentbogen überfangene flache Nische. Sie beginnt in Sitz- höhe und reicht etwa anderthalb Meter nach oben. Auf alten Photos oder Zeichnungen, z.B. von 1824, ist diese Nische noch als Öffnung in der Wand zu erkennen, und im südlichen Teil der Marktfassade, rechts vom südlichen Portal (auf das wir noch zu sprechen kommen), hat sie ein heute noch erhaltenes Gegenstück. Diese Nischen hatte natürlich ihre Funktion; in ihnen nahmen die Gerichtsherren Platz, wenn auf der Rampe, unter einer der beiden den Portalen ursprünglich vorgebauten Lauben, Gericht gehalten wurde. Die südliche, später entstandene Lau- be ist, wie wir gleich sehen werden, noch vorhanden. Auf der nördli- chen Seite lassen sich neben dem Portal die Reste von Konsolen aus- machen, wie sie auch in der südlichen Laube als Träger für die Rippen der Deckenkonstruktion zu finden sind. Der Mittelteil der Rampe wurde übrigens erst später angelegt: als Verbindungsgang zwischen den bei- den Lauben.

          Heute verdeckt ein Kriegerdenkmal die vermauerte nördliche Gerichtsnische. Über einer dicken steinernen Schrifttafel, die der Wand vorgelegt ist, steht auf einer Konsole eine fast bis zum Gurtgesims hinaufragende schlanke Frauengestalt, deren Schmerz und Trauer sich dramatisch in ihrem Kontrapost ausdrücken. Leider ist diese schöne und eindringliche Steinskulptur, obwohl sie aus dem 20. Jahrhundert stammt, bereits stark verwittert, und sie wird zudem regelmäßig durch die dem Rathaus oftmals vorgespannten und dieses völlig verunstalten- den Ausstellungsplakate verdeckt.

          Insgesamt halten sich im Nordteil der Fassade die Elemente der senkrechten (Fensterachsen, Fensterpfosten) und waagrechten (Ram- pe, Gurtgesims, Fenstersprossen, Zinnenkranz) Strukturierung die Waage – was sich im kleinen in den Fenstern, aber auch an den fast quadratischen Zinnen spiegelt –, so daß dieser Gebäudeteil einen Eindruck von satter Größe und breiter Lagerung vermittelt, von fester und unverrückbarer Entschlossenheit.

          Der Südteil der Marktfassade wird entscheidend von der dem Südportal vorgebauten Laube geprägt, einem aus der Gebäudeflucht vorspringenden, von Arkadenbögen durchbrochenen Aufbau über der Rampe und von dessen Tiefe, hinaufreichend bis zum Dach. Diese Laube ist etwa halb so breit wie der südliche Bauteil insgesamt und reicht vom südlichen Beginn der Rampe bis fast zur nördlichen Be- grenzung des Bauteiles. Sie hebt, als auffälligstes Gestaltungselement in der im übrigen an Ziergliedern armen Rathausfassade, das eigentlich kleinere Südportal gegenüber dem Nordportal deutlich hervor, macht es heute zum vorrangig benutzten Eingang des Großen Saals. Als einziges Bauelement fügt sie sich nicht in die ansonsten plane Flä- chigkeit der Rathausfassade ein, sondern erzeugt einen wirklichen Vor-Raum. Überfangen wird die Laube von einem fast die Firsthöhe des alten südlichen Satteldaches erreichenden, kurzen (der Tiefe der Laube entsprechenden), dann in der Neigung des Hauptdaches bis ganz nach unten abgewalmten Querdach. Mittig in den Walm wiederum ist ein kleines sattelförmiges Zwerchdach eingestellt, das der Laube einen dreieckigen Zwerchgiebel verleiht, von weniger als der halben Breite der Laube. Diese Dachkonstruktion der Laube wurde aber erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschaffen und ersetzte das vorangegangene große Schleppdach, auf vielen alten Abbildungen noch zu sehen. Der neue dreieckige Zwerchgiebel wurde aus am Gebäude gefundenen Ansätzen (Basissteinen) entwickelt, die man als – zuvor allerdings niemals zur Ausführung gebrachte – Intention eines solchen Giebels gedeutet hat.

          Abgesehen von der Laube weist der südliche Fassadenteil zwei Rechteckfenster auf, ein schmales rechts von der Laube, zur Gebäu- demitte hin, von der Höhe der Fenster des Nordteils; und ein riesenhaf- tes südlich der Laube, über dem freien Treppenaufgang. Dieses Fen- ster wird, wie diejenigen des nördlichen Bauteils, von zwei steinernen Pfosten und einer waagrechten Sprosse unterteilt, ist aber wesentlich breiter und reicht höher hinauf. Eine Entsprechung findet es in zwei weiteren Rechteckfenstern auf der angrenzenden Südseite des Ge- bäudes. Alle drei Fenster sind erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts nachträglich vergrößert worden und hatten ursprünglich die Dimensionen der Fenster des Nordteils. Um mehr Platz für die Stadtverwaltung zu gewinnen, hat man damals in den südöstlichen Bauteil ein Zwischengeschoß eingezogen (zwischen Erdgeschoß und Dach), das nun vom oberen Drittel der vergrößerten Rechteckfenster beleuchtet wird.

 

 

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