Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

V. Das Langhaus und der Chor

 

Der Übergang vom Westbau aus Kalkbruchstein zum ganz aus rotem Sandstein errichteten Langhaus wird im Süden wie im Norden der Kirche durch je einen Spindeltreppenturm vermittelt. Er steht, von unregelmäßig viereckigem Grundriß, jeweils vor den westlichen Enden der Langhauswand und füllt jene Nische aus, die durch das Aufeinandertreffen der drei Meter dicken Wände des Turmunterbaus mit den viel dünneren des Langhauses gebildet wird. Die beiden Türmchen haben schmale Fensteröffnungen, tragen ein mit Schieferplatten gedecktes Pyramidendach und reichen über die Trauflinie des Langhausdaches hinaus.

          Die Wände des Langhauses werden gestaltet durch die Strebepfeiler an den Jochgrenzen und die dazwischenliegenden, hohen und breiten Fenster. Die Strebepfeiler sind nach oben hin zweimal zurückgetreppt, einmal auf der Scheitelhöhe des großen Südportals, dann ein weiteres Mal kurz vor ihrem oberen Ende, etwas unterhalb der Trauflinie. Die beiden Absätze sind mit Wasserschlägen versehen. Auf die Wasserschläge auf den oberen Abschlüssen der Strebepfeiler ist je ein kleiner steinerner Dreiecksgiebel gesetzt. Diese Ziergiebel sind mit Blendmaßwerk ausgefüllt (an jedem Pfeiler mit anderen Formen) und tragen eine Kreuzblume.

          An der südöstlichen Ecke des Langhauses steht der Strebepfeiler genau diagonal vor der Ecke; gegenüber, auf der Nordseite, ragt er ebenfalls diagonal, aber nicht von der Ecke, sondern, etwas nach Westen verschoben, aus der Nordwand heraus. Dies hat seinen Grund in der hier früher angebauten Sakristei gehabt.

          Die großen Fenster sind drei-, im ersten Joch (von Osten aus) sogar vierbahnig. Dieses Joch ist also, wenn schon nicht durch eine größere Länge, so doch zumindest durch seine Fenster hervorgehoben. Es markiert den Ort des Kirchenbaus, an dem sich auch ein Querhaus hätte befunden haben können. Im westlichen, vierten Joch sind die Fenster, aufgrund des vorgebauten Treppenturms, nur einbahnig. Die Fenster setzen oberhalb des Kaffgesimses an, das in etwa drei Metern Höhe verläuft, und reichen fast so hoch wie die Strebepfeiler. (Interessant ist, daß sie auf der Südseite alle unterschiedlich hoch sind!) Im zweiten, gegenüber den übrigen ebenfalls nicht verbreiterten Joch befindet sich auf beiden Seiten des Langhauses ein Portal. Das breite, aufwendige Südportal erstreckt sich bis etwa zur halben Höhe der Langhauswände; unmittelbar über ihm sitzt ein im Vergleich zum Portal schmaleres und stark verkürztes dreibahniges Fenster auf. Das romanische, rundbogige Nordportal ist wesentlich niedriger; unmittelbar über ihm folgt ebenfalls ein dreibahniges Spitzbogenfenster.

          Der Chor von St.Johannis ist, wie wir gesehen hatten, zwar breiter als das Mittelschiff, gegenüber der Gesamtbreite des Langhauses aber natürlich deutlich eingezogen. Führen wir uns das ursprünglich einheitliche Satteldach von Langhaus und Chor vor Augen, so ergibt sich zwangsläufig, daß die Trauflinie des Chors deutlich höher als beim Langhaus gelegen haben muß, genau wie dies noch heute bei der Paulinerkirche zu sehen ist. Dadurch erklärt sich die ursprünglich größere Höhe des Chors gegenüber dem Langhaus: die Wände des Chors waren höher, aus optischen Gründen werden auch die Fenster weiter heraufgereicht haben, was einen höheren Gewölbeansatz notwendig gemacht hat. Die bereits erwähnte barocke Umgestaltung des Chors hat dieses gesamte Gefüge verändert: das Gewölbe wurde tiefer gelegt, damit mußten notwendigerweise die Außenwände und die Fenster gekappt werden, so daß sich die Trauflinie des Chors heute auf derselben Höhe wie beim Langhaus befindet. Der Preis des ganzen Umbaus ist die Tatsache, daß das Satteldach des Chors heute mit demjenigen des Langhauses nicht mehr korrespondiert: was ursprünglich "aus einem Guß" war, ist jetzt deutlich in zwei Bauteile zerschnitten; der Chor wirkt wie ein kleinerer, niedrigerer Anbau an das Langhaus.

          Im Gegensatz zum Langhaus sind die Strebepfeiler des Chors an den Stellen der beiden Wasserschläge nur unwesentlich oder gar nicht zurückgetreppt. Dies hängt mit dem Stilempfinden der etwas früheren Bauphase des Chors zusammen: man nimmt an, daß der Chor um 1300 begonnen wurde; zusammen mit dem Westwerk bildete er das Widerlager für das dann dazwischengeschobene, etwa gegen 1330 begonnene Langhaus.

          Der Chor zeigt insgesamt neun Fensterausschnitte, von denen allerdings einer (das südliche Fenster im zweiten Chorjoch von Osten) vermauert und außen lediglich mit Blendmaßwerk versehen ist. Die Fenster sind so hoch wie die des Langhauses und allesamt dreibahnig. Der Grundriß bestätigt, daß das Verhältnis von Fensterbreite zu Wandbreite in den Mauern des Chors wesentlich größer ist als im Langhaus. Und tatsächlich ist der Chor innen deutlich heller als das Langhaus, ein Effekt, zu dem sicherlich auch der Westbau beiträgt, der so gut wie kein Licht zum Langhaus durchläßt. Nach dem Verständnis gotischer Ästhetik läßt sich vermuten, daß dieser Effekt gezielt eingesetzt ist, um den "heiligeren" Chorraum gegenüber dem Langhaus aufzuwerten, und zwar auf eine sinnlich-anschauliche Weise: durch ein Mehr an "göttlichem" Licht.

          Als Objekte zur Meditation eignen sich besonders die Maßwerkformen an den Fenstern von St.Johannis. Wenn sie auch alle aus dem 19. Jahrhundert stammen, so bestechen sie doch dafür durch ihren guten Erhaltungszustand und ihren Formenreichtum: keine zwei Fenster sind hinsichtlich ihrer Maßwerke identisch.

 

 

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