VII. Die Portale
Das Nordportal der Göttinger Marktkirche ist ihr kleinstes, aber dennoch berühmtestes: entfaltet es sich doch durch seinen Rundbogen auch dem kunstgeschichtlich weniger geschulten Auge sofort als aus der Romanik stammend. Tatsächlich stellt das Nordportal von St.Johannis das einzige vollständig erhaltene Zeugnis jener Epoche in Göttingen dar. Charakteristisches Merkmal dieses Portals ist eine sog. polylobe Archivolte, ein Motiv zisterziensischer Bautradition, wie man es z.B. auch am Portal des Domes zu Halberstadt und im ehemaligen Zisterzienserkloster Riddagshausen bei Braunschweig findet. Vom Boden aufsteigend gehen profilierte Pfeiler des Portalgewändes - ohne Basis und ohne Absatz für Kapitell oder Kämpfer - in der Bogenzone in eine Abfolge von nach unten geöffneten Halbkreisen über, in der Art eines entsprechend dem Bogenverlauf gekrümmten Rundbogenfrieses. Sechs kleine Halbkreise faßt die rundbogige Archivolte auf diese Weise über der Doppeltür und dem halbrunden, heute kleinteilig verglasten Tympanon zusammen. Die Archivolte weist eine gegenüber den sie tragenden Pfeilern doppelte Breite auf, wobei die Verbreiterung nach innen gerichtet ist. Hier, in diesen inneren Teil sind die Halbkreise ausgeschnitten. Die Tatsache, daß der äußere Teil der Archivolte den Bogen statisch trägt, ist dadurch verschleiert, daß das Profil der Pfeiler nicht im tragenden äußeren Teil der Archivolte entsprechend der großen Rundbogenform weitergeführt wird, sondern die Konturen der kleinen Halbkreisausschnitte nachzeichnet, während in den Zwickeln zwischen den Halbkreisausschnitten harmlose Blütenornamente sitzen. Die Wirkung des Architekturmotivs wird noch gesteigert, indem die polylobe Archivolte vor einen einfachen Rundbogen (als der innersten Schicht des Gewändes) gestellt ist. Von diesem Hintergrundbogen ist sie ein Stück abgesetzt, scheint einige Zentimeter vor ihm frei zu stehen, was nicht nur einen plastischen Effekt erzeugt, sondern auch das scheinbare statische Faszinosum dieser Archivolte betont.
Außerhalb der Pfeiler, die die polylobe Archivolte tragen, bildet eine auf jeder Seite in eine rechtwinklige Nische eingestellte Säule einen weiteren Teil des Portalgewändes. Die Säulen haben Sockel und Basis, Kapitell und Kämpferplatte. Im Bogenfeld setzen sie sich als dicker Rundstab fort, der denselben Durchmesser wie die Säulen selbst hat: als eine Art zu einem Halbkreis gebogene Säule also, die auf den beiden Kämpferplatten mit zwei Basen steht. Ein aus der Wand vorspringender, breitwulstiger und profilierter Rahmen bildet den äußeren Abschluß des Gewändes.
Das Portal in der Frontseite des Westbaus zeigt ebenfalls ganz eindeutig romanische Elemente. In große rechtwinklige Gewändenischen sind links und rechts der Portaltüren je zwei Säulen eingestellt, hier zur Besonderheit aus hellem Sandstein. Auch sie haben Basis und Kapitell, und entsprechend der hier gestalteten Formen kann man sie kunstgeschichtlich ebenfalls in die Zeit um 1250 datieren. Das Portal hat aber offenbar zweimal einschneidende Veränderungen erfahren, und zwar vermutlich um 1290, als man mit dem gotischen Neubau begann, und dann noch einmal um 1330, als der Chor bereits stand und man zum Langhaus überging. Abzulesen ist dies daran, daß sich im seitlichen Portalgewände auch gotische Formelemente finden, wohingegen das Bogenfeld nur noch aus solchen besteht. Man nimmt an, daß das Portal 1290 unter Verwendung alter Teile eines früheren romanischen Portals neu aufgebaut wurde. Es war aber hier trotzdem noch rundbogig überfangen, wie dies an Kirchen aus gleicher Zeit, z.B. in Braunschweig, vorgebildet war. Oberhalb der Kämpfer wurden die romanischen Säulen des Gewändes in birnstabprofilierten, aber rundbogigen Archivolten fortgesetzt.
Sei es nun, daß die Göttinger das Hauptportal im weiteren Bauverlauf der Kirche immer mehr als zu klein, genauer gesagt: als zu niedrig empfanden, sei es aber auch, daß sich einige Jahrzehnte später die Meinung durchsetzte, diese repräsentative Stelle des Gebäudes dürfe nicht durch eine romanische, also veraltete, unmodern gewordene Form besetzt sein - auf jeden Fall wurde um 1330 das rundbogige Bogenfeld herausgebrochen und durch ein spitzbogiges ersetzt. Dies ist heute noch gut zu erkennen: oberhalb der Anfänger des Bogenfeldes wechselt nicht nur die Art des Steins, sondern es besteht ein sichtbarer Bruch in der Ausrichtung der Archivolten.
Die Türen des Westportals liegen etwa 1,20 Meter innerhalb der Fassadenflucht, vom Vorplatz um zwei Stufen erhöht. Da der äußere Abschluß des Gewändes etwas aus der Flucht der Westfassade heraussteht, beträgt die Tiefe des äußeren Gewändes knapp anderthalb Meter. Innerhalb der Türen ist der Mauerdurchbruch nicht abgeschrägt, sondern als schlichte, noch einmal über 1,50 Meter dicke Laibung gestaltet. Sie ist weiß getüncht, ohne jegliche Dekoration. Das spitzbogige Tympanon über der Doppeltür ohne Mittelpfosten ist heute mit Glasmalereien ausgefüllt, so daß die Turmhalle auch von Westen etwas beleuchtet wird.
Die beiden Säulen auf jeder Seite des Portalgewändes sind von je drei Pfosten umrahmt. Im Gegensatz zu den Säulen haben die Pfosten keine expliziten Basen. Stattdessen wachsen aus Sockeln mit rechteckigen Grundflächen an den Vorderkanten Rundstabprofile aus schrägen Schnitten empor. Diese Rundstabprofile verlaufen ohne Unterbrechung bis zur Spitze des Bogens. (Einen sichtbaren Knick zeigen sie jedoch, wie erwähnt, oberhalb der Anfänger.) Im Bogenfeld wechseln also Rundstab- und Birnstab-Archivolten, wie dies schon im Rundbogen-Portal von 1290 vorgegeben war. In der zweiten gotischen Umbauphase (1330) wurde dem Portal zusätzlich ein großer Wimperg aufgesetzt. Dazu mußte eine beträchtliche Partie der äußeren Steinschicht aus der bestehende Westwand gebrochen werden. Leider wurden die Zwischenräume anschließend sehr unfachmännisch wieder verschlossen: die zur Einpassung des Wimpergs in die Westwand neu eingesetzten, kleineren Steine fügen sich optisch nicht in das alte Mauerwerk ein.
Der Raum zwischen Bogenfeld und Wimperg wurde mit glatten Rotsandsteinquadern ausgefüllt. Die Kanten des Wimpergs sind nicht mit Krabben und Kreuzblume verziert, sondern tragen lediglich ein vierblättriges Blütenornament an den unteren Enden und auf der Spitze ein Krückenkreuz, dessen Balken sich nach außen verbreitern, ähnlich wie beim Malteserkreuz, und von einem dreifachen Rad eingefaßt werden (Radkreuz).
Das Südportal von St.Johannis, der formenreichste und vielleicht interessanteste der drei Eingänge, wird von seinen Stilmerkmalen her ebenfalls auf etwa 1330 datiert, die Epoche also, als das Langhaus der Kirche entstand. (Auch hier ist allerdings nicht geklärt, wieviel der heutigen Gestalt auf neogotische Umbauarbeiten des 19. Jahrhunderts zurückzuführen ist.) Das Portal hat einen zweiflügeligen Aufbau mit steinernem Mittelpfosten. Hervorstechendes Merkmal ist sein gestelzter Spitzbogen: die Archivolten beginnen nicht unmittelbar oberhalb der Kämpfer, sondern erst ein Stück weiter oben; im Zwischenraum sind die sie tragenden Gewändestäbe weiter senkrecht nach oben geführt. Auf diese Weise ergibt sich oberhalb des steinernen Türsturzes ein deutlich überhöhtes spitzbogiges Tympanon. Sein Maßwerk wurde im Barock ebenfalls zerstört und im 19. Jahrhundert neu eingesetzt. Heute zeigt es, oberhalb von zwei den Türflügeln zugeordneten Spitzbögen, eine zusammenfassende Dreiecksform, die aus einem zentralen, auf einer Spitze stehenden Dreiblatt und drei außen angeordneten Dreischenkeln zusammengesetzt ist.
Der Mittelpfosten des Portals erinnert an eine Säule, bei genauerem Hinsehen erkennt man aber die "Fehler": es fehlt ein ausgeprägter Säulenfuß, stattdessen steht der Schaft mehr oder weniger unvermittelt auf einem hohen, achteckigen Sockel; der Pfosten trägt zwar ein Kapitell, mit schweren, fleischigen Blattornamenten skulptiert, der Kämpfer ist dafür aber nur sehr schwach ausgeprägt, und auf ihm lastet ein kurzes Pfeilerstück, das zum Sturz überleitet und dasselbe Kehlstabprofil wie dieser zeigt. Die derzeit himmelblau gestrichenen Türen des Portals treten deutlich hinter Pfosten und Türsturz zurück.
Das Portalgewände besteht auf jeder Seite aus zwei großen, stark ausgeprägten Hohlkehlen, mit drei umrahmenden Birnstäben. Dieses gesamte Gefüge entspringt einem gemeinsamen abgeschrägten Sockel. In die beiden Hohlkehlen ist je ein dünner, zierlicher Rundstab eingestellt, der auf der Höhe des Türsturzes, also deutlich oberhalb desjenigen des Mittelpfostens, ein großes, aber filigran gearbeitetes "Kapitell" trägt, was im Vergleich zum Umfang des tragenden Rundstabs ausgesprochen "kopflastig" wirkt. Diese Kapitellköpfe sind wiederum mit überbordender Blattornamentik besetzt. Der darüber liegende "Kämpfer" besteht aus einer flachen, achteckigen Scheibe; oberhalb von ihm laufen die Rundstäbe weiter. In den Archivolten sind die Hohlkehlen zwischen den Birn- und den Rundstäben dicht mit fleischigem, aber kleinem Laubwerk gefüllt. Ein bemerkenswerter optischer Effekt ergibt sich, wenn man aus einiger Entfernung kommend auf das Südportal zuschreitet und dabei die Archivolten im Auge behält: aus der Ferne sind jeweils nur die inneren Hälften der von den eingestellten Rundstäben zerteilten ornamentierten Hohlkehlen sichtbar, die nach vorn, vom Portal weg zeigen. Die anderen, zurückgewandten Hälften werden erst kurz vor dem Erreichen der Portaltüren sichtbar. Die größere Nähe zur Kirche, der Impetus, in sie einzutreten, wird also hier mit dem überraschenden Auftauchen eines größeren ornamentellen Reichtums belohnt, die Verlockung des Kircheninneren wird gesteigert!
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