Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

IX. Gewölbedetails und Schlußsteine

 

Beim Blick in die Seitenschiffgewölbe von St.Johannis, besonders an den östlichen und westlichen Enden fällt auf, wie spitz die Bögen hier nach oben zulaufen. Während die Gurtbögen im Mittelschiff die klassischen Proportionen haben (normale oder gleichseitige Spitzbögen), sind sie in den Seitenschiffen überhöht. Dies hängt mit der Bauweise als Hallenkirche zusammen, also der gleichen Scheitelhöhe von Mittel- und Seitenschiffen. Angesichts der viel geringeren Breite der Seitenschiffe gegenüber dem Mittelschiff und bei gleicher Kämpferhöhe der Gewölbeansätze müssen die Bögen zwangsläufig wesentlich spitzer werden. Diese ungleichen Spitzbogenproportionen von Mittel- und Seitenschiffen sind also der notwendige Preis des Hallenkirchenprinzips.

          Die Turmhalle mit ihren drei Kreuzrippengewölben ist durch die beiden Seiten- und die zentrale Orgel-/Chorempore sowie die - aus akustischen Gründen - vor die mittlere Öffnung gestellte Orgel nur sehr schwer in den Blick zu fassen. Zudem sind oberhalb der Emporen die Seitenjoche der Turmhalle vom Mitteljoch durch bis unter das Gewölbe reichende Holzwände vollständig abgetrennt. Die Schwere der drei Meter dicken Turmpfeiler setzt sich in ebenso schweren Gurtbögen fort, mit breiten, glatten Laibungen. Diese Turmhallen-Gurtbögen liegen wesentlich tiefer als die Gurtbögen des Langhauses, und das Gewölbe der dreischiffigen Turmhalle ist deutlich niedriger als das Langhausgewölbe. Das Kreuzrippengewölbe des Mitteljoches und sein Schlußstein sind dank der monströsen Orgel mit dem Prospekt im Stil der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts und der seitlichen Holztrennwände für den Besucher überhaupt nicht zu sehen.

          Der Ansatz der Langhausgewölbe an den Turmpfeilern ist über schwere Konsolen gelöst, die im Süden an der südöstlichen, im Norden an der nordöstlichen Ecke der Turmpfeiler ansetzen. Die südliche Konsole ist auffällig: einem massiven Kern sind hier filigrane Rundstäbe vorgelegt, die sich unter dem Kapitell gabeln. Das Kapitell ist zweiteilig: unter dem üblichen, auch hier rot unterlegten Blattwerk-Kämpferband erscheint eine Zone, die durch schräggestellte Kanten charakterisiert ist, eine Art Trommel auf oktogonaler Grundfläche, die im oberen Teil eine seitliche Torsion erfahren hat.

          Die Schlußsteine der Gewölbe im Langhaus sind alle etwa gleich groß, rund, haben einen Goldrand und sind farbig gefaßt. Die darauf abgebildeten, reliefartig skulptierten Heiligenfiguren sind zumeist etwa bis zu den Knien gezeigt, mit großen Köpfen und schmächtigen Körpern. Wegen der spärlichen und manchmal etwas unklaren Attribute konnten sie bis heute nicht alle zweifelsfrei identifiziert werden. Die aktuelle Farbgebung ist nicht historisch belegt, sondern geht mehr oder weniger auf die Willkür des zuletzt tätigen Malers zurück. In der Reihenfolge von Ost nach West zeigen sich auf den Schlußsteinen im Mittelschiff:

- Johannes der Täufer (?), mit Goldgewand und langem Bart, mit dem rechten Zeigefinger auf eine schwarze, goldumrahmte Scheibe deutend, die er im linken Arm hält;

- eine weibliche oder jugendlich-männliche Heiligengestalt mit langem, offenen Haar und edlem rotem Mantel über einem weißen, langärmeligen Untergewand, ebenfalls mit dem Zeigefinger der Rechten auf eine diesmal weiße, goldgerandete Scheibe in der Linken weisend;

- der Apostel Andreas mit dem x-förmigen Andreaskreuz (Märtyrium) in der Rechten und dem Buch (Verkünder des Evangeliums) in der Linken;

- der hl. Martin von Tours (316-397) zu Pferde, während er (vor den Toren Amiens) einem nackten, frierenden Bettler mit dem Schwert ein Stück seines Mantels abschneidet;

Die Schlußsteine im nördlichen Seitenschiff zeigen von Ost nach West:

- Christus im Lendenschurz mit Kreuz, Geißel (Märtyrium) und einem weiteren Gegenstand in den Händen (Palmenzweig?), an denen aber keine Wundmale zu erkennen sind;

- die hl. Katharina von Alexandrien, als jungfräuliche Königstochter mit Krone auf langem, offenen Haar und in edler Kleidung dargestellt. In der rechten Hand hält sie ein großes Schwert nach unten, in der linken ein kleines Wagenrad (Märtyrium);

- den hl. Erzengel Michael, wie er gerade dem Drachen (Luzifer) die Lanze in den Rachen stößt (um ihn vom Himmel auf die Erde herabzustoßen);

- den Apostel Petrus mit riesigem Schlüssel (zum Himmelsreich) und offen nach vorn gehaltenem Buch (Verkünder des Evangeliums).

Auf den Schlußsteinen des südlichen Seitenschiffes sind dargestellt:

- ein Engel mit einer großen Krone in der Rechten, auf die er mit dem linken Zeigefinger deutet;

- eine bartlose Heiligengestalt (Barbara?) in edler, vergoldeter Kleidung (vorn offener Mantel und Untergewand), mit einer grauen, perükenhaften, offenen Haartracht. Rechts neben ihr steht ein kleiner Turm, auf den sie mit dem rechten Zeigefinger weist;

- der hl. Nikolaus von Myra, als Bischof mit Mitra und Krummstab, die rechte Hand zum Segen erhoben: während Daumen, Zeige- und Mittelfinger bei nach vorn zeigender Handfläche nach oben gestreckt sind, sind die anderen beiden Finger eingebogen;

- der hl. Laurentius von Rom im Diakonsgewand, ohne Kopfbedekung und mit offenem Haar, in der Rechten einen Rost haltend (Märtyrium), die andere Hand flach auf den Bauch gelegt.

          Die schmächtigen Körper der gezeigten Heiligen haben vermutlich einen ganz praktischen Grund: würde man den Kopf der Figuren in den relativ kleinen und vom Betrachter weit entfernten Schlußsteinen gegenüber dem Körper nicht deutlich vergrößern, wäre ihr Gesichtsausdruck überhaupt nicht zu erkennen. Aber auch an vielen Skulpturen des 14. Jahrhunderts, für die diese pragmatische Begründung sicherlich nicht zutreffen kann, findet sich eine solch reduzierte Körperlichkeit, z.B. bei der fast lebensgroßen und unrealistisch schlanken Plastik des hl. Nikolaus in der ehemaligen Klosterkirche Nikolausberg (bei Göttingen). Wir haben es also hier über das Praktische hinaus auch mit einem Stilmerkmal dieser Phase der Gotik zu tun.

          Bei einigen der in den Schlußsteinen dargestellten Figuren ist zu erkennen, daß sie auf einer Wolke schweben (z.B. Christus, Michael). Und fast alle Heiligen lächeln den Betrachter, trotz - oder gerade wegen der Instrumente ihres Märtyriums, die sie jetzt als Siegeszeichen führen, fröhlich an: als die Verlockung des Himmelsreich für die inbrünstig zu ihm heraufschauenden Gläubigen.

 

 

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