Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

IV.5. La Giralda renacentista: el cuerpo de campanas (Hernán Ruiz II, 1558-68)

 

Als Hernán Ruiz II im Jahre 1557 zum Kathedralbaumeister von Sevilla ernannt wurde, zeigte der Turm der Bischofskirche noch immer fast vollständig das Aussehen des einstigen almohadischen Minaretts. Nach wie vor wurde das muslimische Bauwerk, 1198 vollendet, fünfzig Jahre also vor der reconquista der Stadt durch Fernando III, lediglich von einer einzelnen Glocke bekrönt, in einem schlichten, offenen Glockenständer, der anno 1400 auf dem schmaleren, oberen der beiden rechteckigen Teilkörper errichtet worden war, dort, wo einstmals die vier goldenen Kugeln eine mit farbig glasierten Kacheln bedeckte Kuppel überragt hatten. Aber nun, da die neue Kathedrale nach 150-jähriger Bauzeit nahezu fertiggestellt war, sollte auch der Turm ein neues, von der christlichen Baukunst geprägtes Gesicht erhalten und der Baumeister aus Córdoba mit einem Entwurf beauftragt.

          Wenn die Sala Capitular vielleicht das am meisten avantgardistische Bauwerk Hernán Ruiz’ ist, so ist dennoch der Glockenaufsatz der Giralda sein bei weitem bekanntestes. Dies deshalb, weil der Turm zum Wahrzeichen nicht nur der Kathedrale, sondern der ganzen Stadt Sevilla geworden ist.

          Die Genialität liegt sicherlich darin, daß es der Baumeister verstanden hat, zwei scheinbar völlig konträre Forderungen zu erfüllen: einerseits die alte Bausubstanz, einschließlich der wunderbaren almohadischen Dekoration, zu erhalten und andererseits doch auch den ganzen Formenreichtum der reifen Renaissance zu entfalten. Wie aber, so wird man sich fragen, war das möglich? Wie konnte es erreicht werden, daß in der Summe nicht ein hybrides Machwerk entstand, das weder Fisch noch Fleisch war, ein Zwitterwesen mit zwei ganz verschiedenen und unvereinbaren Gesichtern?

          Hernán Ruiz löste diese Aufgabe, indem er das almohadische Minarett mit einem eleganten, hohen Renaissance-Aufsatz versah. Zugute kam ihm dabei zweierlei: zum einen die gute Statik des bestehenden Backsteinmauerwerks, das ohne weiteres das zusätzliche Gewicht des Renaissance-Aufsatzes auf dem Minarettschaft verkraften konnte; zum anderen war schon der obere Abschluß des Minaretts so geschickt strukturiert (durch den kleineren Rechteckkörper, der – als Verlängerung des inneren Mauerrings des Turms, auf der Innenseite der Rampe – aus dem größeren, äußeren nach oben herauswächst), daß Bedingungen für eine Aufstockung des Bauwerks gegeben waren, die eine proportionierte Gliederung der Baumassen zuließen. Den Übergang schließlich, vom almohadischen Turmschaft zum Glockenaufsatz im Renaissance-Stil, gestaltete Ruiz so geschickt, daß dem Auge des Betrachters keinerlei Bruch auffällt.

 Der Kathedralbaumeister stellte auf die Dachterrasse des breiten, äußeren Baukörpers des Almohaden-Minaretts eine hohe Galerie, die nicht nur mit ihren vier Ecken die Außenkanten des Turmschaftes geradlinig nach oben fortsetzt, sondern in ihrer inneren Strukturierung auch auf die Flächendekoration des unteren Teils Rücksicht nimmt. So sind etwa die Eckfeiler gerade so breit wie die undekorierten Mauerstreifen außerhalb von den Sebka-Feldern. Auch beim Baumaterial ließ sich Hernán Ruiz von den Gegebenheiten des Turmschaftes inspirieren: er verwendete ebenfalls Backstein, wenn auch in Kombination mit Werkstein. Letzteren setze er vor allem für die dekorativen Elemente wie Kapitelle, Gesimse, Balustraden oder Ziervasen ein, aber auch für strukturelle Komponenten wie Bögen, Fensterstürze, Gewölbe und Bedachungen. Als drittes Baumaterial treten schwarze azulejos hinzu. Die Verkleidung mit glasierten Kacheln greift dabei nicht nur eines der typischen Merkmale islamischer Dekorationsweise auf, sondern ermöglicht dem Architekten auch hier wieder die von ihm so bevorzugte mehrfarbige Gestaltungsweise, wie sie eindrucksvoll schon im Kapitularkomplex hervortritt.

          Vielleicht wiederum in Anlehnung an die einstige, almohadische Konstruktion, mit ihrem Abschluß aus sich nach oben verkleinernden Kugeln, gliederte Hernán Ruiz II seinen Aufsatz auf den inneren, oben herausragenden Turmkörper als eine Abfolge von aufeinandergestellten, sich nach oben verjüngenden Teilkörpern. Dem ehemaligen Kuppeldach und den vier goldenen Kugeln entsprechen ebenfalls fünf Elemente: ein dreigeschossiger steinerner Aufbau, darüber eine Bronzekugel und auf ihr eine Bronzeskulptur als Wetterfahne. Insgesamt ist der neue Aufbau aber wesentlich höher, und vor allem ist das Schema der Proportionen zuletzt doch signifikant durchbrochen: der obere Abschluß des Aufsatzes ist in einer Weise betont, die unter den Kirchtürmen Europas ihresgleichen sucht. Die Bronzeskulptur mit der Frauengestalt, die eine große Fahne hält, während der Palmwedel in der anderen Hand in die Richtung weist, aus der der Wind kommt, ist insgesamt sechs Meter hoch und damit von weiten Teilen der Altstadt aus mit bloßem Auge gut zu erkennen.

          War die Sala Capitular, zusammen mit ihren Dependenzen, ein Bauwerk, das vor allem durch seine Innenräume besticht, so zeigt Hernán Ruiz II an der Giralda seine Fähigkeiten zur Außengestaltung. Die verschiedenen Bauteile, die ihren Aufsatz konstituieren, zeigen einen Reichtum an Einzelformen, die in ihrer Gesamtheit zu beschreiben den Rahmen sprengen würde. Markant ist etwa das modifizierte Palladio-Motiv, das die vier Seiten der großen Galerie schmückt, die auf der ersten Dachplattform den Schaft des inneren Turms umhüllt. Der zentrale, überhöhte Bogen wird beiderseits nicht von je einer rechteckigen Öffnung mit darüberliegendem Okulus umrahmt, sondern von zweien, so daß sich jeweils fünf Öffnungen pro Turmseite ergeben.

          Einen einzigartigen Einfall und eine konstruktive Meisterleistung stellt die schwere Metallstange dar, die die drei steinernen und zwei bronzenen Baukörper über dem inneren almohadischen Turmschaft senkrecht und mittig durchzieht: sie dient unten zur Aufhängung der schweren Stundenglocke, im Mittelteil als Halterung für diverse Zuganker und als Sprossenleiter zum erklimmen der Turmspitze und schließlich, ganz oben, als Drehachse für die riesige Wetterfahne.

          Kleine, tragbare Marienfiguren führte Fernando el Santo mit sich auf seinen Kriegszügen gegen die Almohaden; beim feierlichen Einzug in das zurückeroberte Sevilla soll er sie wie bei einer Prozession mitgeführt haben und heute präsidieren sie nicht nur die zentralen Altäre der großen Bischofskirche, sondern geben auch den wichtigsten Plätzen der Stadt ihren Namen. Was würde der heilige König, dessen Gebeine noch heute viermal im Jahr dem ehrfürchtigen Publikum sichtbar gemacht werden, in der Capilla Real der Kathedrale von Sevilla, von dieser überlebensgroßen Frauengestalt auf der Spitze des ehemaligen Minaretts gehalten haben, die die Fe Victoriosa repräsentiert? Er würde sie als das Symbol des Sieges des christlichen Glaubens über die Heiden verstehen, die die Halbinsel und die Stadt Sevilla, historischen Wirkungsort der großen Bischöfe der Westgoten, Leandro und Isidoro, jahrhundertelang besetzt hielten.

          Für die Sevillaner des 16. Jahrhunderts aber, der Zeit des Siglo de Oro und der Renaissance, sollte die Fides eine ganz andere Bedeutung haben. Gerade tagte in Trient das Konzil und grenzte die katholische Kirche und den wahren Glauben, unter Aufbietung aller dogmatischen und ideologischen Anstrengungen, gegen die Ketzerei und Häresie der Protestanten und Calvinisten aus dem hohen Norden ab.

          Worüber aber, so könnte ein Mensch des 21. Jahrhunderts fragen, der Jesuitenpater etwa, der in Kolumbien arbeitet, der junge, marokkanische Tomatenpflücker aus Almería, der lutherische Tourist aus Stockholm oder der methodistische aus Boston, worüber – und für wen –ist die Fides heute siegreich?

 

 

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