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III. Sevilla und die Eroberung Amerikas
III.1. Das Fresko von San Cristobal und das Grab des Christoph Kolumbus
Öffnet sich der Nordflügel des Querschiffs der Kathedrale von Sevilla zum Patio de los Naranjos, über die monumentale Puerta de la Concepción, die erst Ende des 19. Jahrhunderts in historisierendem Stil begonnen wurde und deren Vollendung sich bis ins 20. Jahrhundert hinein hinzog, so geht der südliche Arm mit einem nicht minder gewaltigen Portal auf einen imposanten Vorhof. Dieser wird im Westen und Osten von zwei großen Baukomplexen begrenzt, die im 16. Jahrhundert (Sakristeibereich im Osten) bzw. im 17.-18. Jahrhundert (Verwaltungsbereich im Westen) an die Südfassade der Kathedrale angefügt worden waren. Für die Puerta de San Cristóbal zeichnet derselbe Architekt verantwortlich, und die Bauzeit liegt nur wenig vor derjenigen des Portals auf der gegenüberliegenden Seite des Querschiffes. Namensgebend für diesen Kircheneingang war ein bereits 1584 von dem Italiener Mateo Pérez de Alesio geschaffenes Fresco eben dieses Heiligen. Christophorus stammt, der Legende nach, aus dem Geschlecht der Riesen, und so ist auch das Wandgemälde des Pérez de Alesio, um den Gläubigen nur ja einen authentischen Eindruck von der ganzen Gestalt des „Christusträgers“ zu vermitteln, von geradezu monströsen Ausmaßen. Zwar ist das zur Verfügung stehende Wandstück relativ schmal (es handelt sich um die Ostseite des äußersten der insgesamt sieben Joche des Querschiffes, auf der Höhe der südlichen Seitenkapellen liegend, also die Fläche des Strebepfeilers zwischen dem sechsten und siebten Langhausjoch), dafür aber von um so größerer Höhe: es reicht von der Sockelzone aus bis an die Unterkante des Gewändes für das untere der beiden spitzbogigen Fenster, die in die hier weit über die Seitenkapellen hochgeführten Wand eingelassen sind – es sei daran erinnert, daß das Querschiff dieselbe Höhe wie das Mittelschiff aufweist.
Ein als Eremit lebender Mönch hatte dem Christophorus einst den Vorschlag gemacht, Gott durch seine enormen Kräfte zu dienen, indem er Pilger über einen breiten, gefährlichen Strom tragen sollte. Christus selbst, der sich, in Kindesgestalt, von dem dienenden Riesen über den Fluß tragen läßt, gibt sich diesem schließlich zu erkennen und tauft ihn in den Fluten. Daraufhin entsprießen dem Wanderstab des Christophorus Zweige und Blüten. Das Fresco des Pérez de Alesio zeigt, der damals geläufigen Typologie entsprechend, die zentralen Elemente der Legende: gerade setzt der Riese, als Fährmann gekleidet und mit Stirnbinde, seinen Fuß an Land, während der andere noch in dem Fluß steht, den er gerade durchwatet hat. Ein haushoher Palmstamm mit grünen Wedeln am oberen Ende dient ihm als Stab. Auf einer Klippe etwas im Hintergrund steht der Eremit und leuchtet dem Christophorus mit einer Laterne. Auf der linken Schulter des Riesen aber sieht man das Christuskind sitzen, in einer Pose wie auf der Skulptur der Virgen de la Sede, mit der Erdkugel in der linken Hand und der rechten erhoben zum Segen.
Der Besucher der Kathedrale, der in den Südflügel des Querschiffes gelangt, wird die Figur des heiligen Christophorus aufgrund seiner Dimensionen nur schwer ins Auge fassen können. Viel eher wird ihm also jene pompöse Skulptur ins Blickfeld kommen, die, zu Füßen des Riesen, die zentrale Position in diesem Querschiffarm einnimmt: das Grabmal des Cristóbal Colón, des Kolumbus.
Sicher, die Namensgleichheit des berühmten Entdeckers Amerikas, Cristoforo Colombo, mit dem heiligen Riesen ist Zufall. Der gebürtige Genuese hat sich seinen Vornamen nicht ausgesucht. Aber wenn er es hätte tun können, er hätte genau diesen Namen gewählt: welche Rolle hätte dem so religionsfrommen Descubridor mehr auf den Leib geschnitten sein können als diejenige des von Gott Berufenen, der als erster das unglaubliche Wagnis eingeht, den Atlantik zu überqueren, dem dies dank seiner „Kraft“ auch gelingt und der sich dann, im Zuge seiner weiteren Fahrten, immer mehr als Gottes Fährmann, als „Christusträger“ versteht, indem er übersetzt, um den Wilden „West-Indiens“ das Christentum zu bringen?
Es mag abstrus klingen, aber Colón unterzeichnete später seine Briefe mit „Cristoferens“, der lateinischen Form für „Christusträger“, und aus vielen seiner Eintragungen in dem berühmten Tagebuch seiner ersten Überfahrt und späteren Äußerungen geht hervor, wie sehr er sich als derjenige verstand, der die Voraussagen der Propheten des Alten Testaments erfüllte.
Welche Beziehung aber hat der Entdecker Amerikas zur Kathedrale von Sevilla und zu dieser Stadt selbst, die einst Fernando III von den Mauren zurückerobert hatte?
Mit dem Einzug in Sevilla 1248 war die Reconquista noch nicht gänzlich abgeschlossen. Das Königreich Granada war den Mauren verblieben, unter der Herrschaft der Nasriden, einer weiteren der vielen islamischen Dynastien auf spanischem Boden. Zwar erkannte der Emir die Oberhoheit der christlichen Reiche über die Halbinsel an, hatte im 13. Jahrhundert sogar auf der Seite der Christen gekämpft, sein Königreich jedoch, von einem Ausmaß, das mehr als ein Drittel des heutigen Andalusiens ausmachte, wollte er durch dieses sein wohlwollendes Verhalten retten. So bestand es auch beinahe 250 weitere Jahre fort und brachte die letzte großartige Blüte islamischer Kunst und Kultur in Spanien hervor, zu denken sei nur an den märchenhaften Alhambra-Palast.
Es ist nicht nur Zufall, wenn Kolumbus genau in jenem Jahr 1492 zu seiner ersten Entdeckungsreise aufbricht, in dem das Nasridenreich vor den christlichen Angreifern kapituliert. Die Capitulaciones de Santa Fe, jener Vertrag zwischen dem Entdecker und den Katholischen Königen, der die weitreichenden Bedingungen enthält, unter denen Kolumbus die zu entdeckenden Lande für die spanische Krone in Besitz nehmen wollte, wurde in einem Feldlager kurz vor Granada unterzeichnet, in dem sich das Königspaar Isabella und Ferdinand in der letzten Phase des Eroberungskriegs persönlich aufhielt. Hatte die Königin den Vorschlag Kolumbus’ zur Erkundung der Westpassage nach „Indien“ noch zwei Jahre zuvor abschlägig beantwortet, vielleicht auch angesichts der von den schweren Kämpfen gegen die Nasriden leeren Staatskasse, so schien jetzt, da bereits über die Übergabe Granadas verhandelt wurde, die Bereitschaft zum (auch finanziellen) Wagnis im Königshaus die Oberhand gewonnen zu haben.
In den Jahrzehnten zuvor hatte Portugal damit begonnen, systematisch die Küste Afrikas zu erkunden und in Besitz zu nehmen, was dem Land einen enormen Reichtum und Handelsvorteil gegenüber den anderen europäischen Mächten der Zeit verschaffte. Auch Spanien war also gegenüber ihrer einstigen Grafschaft Portucale ins Hintertreffen geraten. Zwar war durch die Heirat zwischen Isabel, der Königin von Kastilien und León, und Fernando, dem Thronfolger von Aragón, im Jahre 1469 der Grundstein für einen spanischen Nationalstaat gelegt, mit dem das übrige Europa in Zukunft rechnen mußte, doch sollte dieses Reich noch eine ganze Zeit lang damit beschäftigt sein, erst wirklich zusammenwachsen, ein Prozeß, dem naturgemäß viele Interessensgruppen entgegenstanden.
Die Koinzidenz der Ereignisse des Jahres 1492 ist aber noch in einem viel weitergehenden Sinne kein Zufall. Seit Jahrhunderten hatten die iberischen Herrscherhäuser nicht nur ihre Politik, sondern auch ihre gesamte innere Staatsstruktur auf die Eroberung ausgelegt, die auf der Halbinsel eine Rückeroberung war. Strukturen aber, die sich über so lange Zeit hinweg „bewährt“ und gefestigt hatten, brachen nach dem erfolgreichen Abschluß der Reconquista nicht einfach zusammen, sondern suchten sich viel mehr ein neues Betätigungsfeld. Das Königreich Aragón, das sich unter Jaime I. dem Eroberer zusätzlich zum Fürstentum Katalonien auch die Balearen und das Königtum Valencia einverleibt hatte und dem durch Verträge mit Kastilien der weitere Vorstoß nach Süden, gegen die verbliebenen Maurenbastionen abgeschnitten war, demonstrierte schon im ausgehenden 13. Jahrhundert, was auf die spanische Reconquista folgen sollte: die Conquista. Sizilien wurde für die aragonesische Krone erobert, später Sardinien und Teile Griechenlands.
Während Aragón also nach Osten ins Mittelmeer ausgegriffen hatte und Portugal dabei war, nach Süden, nach Afrika vorzustoßen, auch mit dem Fernziel, durch die südliche Umschiffung dieses Kontinentes den Seeweg nach Indien zu finden, bot Kolumbus der kastilischen Königen mit dem Vorschlag, die Westroute zu suchen, eine einzigartige Gelegenheit, verlorenes Terrain zurückzugewinnen und der iberischen Hegemonialmacht ihrerseits die Möglichkeit der Conquista zu öffnen, also zur Kolonialmacht aufzusteigen.
Was auf die fixe Idee und die Tat eines einzigen Mannes folgte, jenes Cristóbal Colón, der sich bei der Berechnung des Seewegs nach Indien kolossal verrechnet hatte und der auf Nimmerwiedersehen im „Ozeanischen Meer“ verschollen wäre, hätte sich dort nicht wider erwarten ein noch unbekannter Kontinent befunden, den er bis zu seinem Lebensende für die Küste Asiens hielt, so wie es Marco Polo beschrieben hatte, was also auf diese Tat folgte, war ein unglaublicher wirtschaftlicher Aufschwung für den gerade erst geschaffenen spanischen Nationalstaat. Das 16. Jahrhundert ist auf der iberischen Halbinsel als das Siglo de Oro bekannt, das goldene Jahrhundert. Wenn dies nicht nur in kulturellem, also etwa künstlerischem und literarischem Sinne, sondern auch ganz wörtlich zu verstehen ist, als Einfuhr gewaltiger Mengen des begehrten Edelmetalls, so hatte die Stadt Sevilla daran einen maßgeblichen Anteil, ja, dieses Jahrhundert machte sie zur die reichsten Stadt Europas.
Kolumbus hat zwar einige Zeit in Sevilla verbracht, seine vier Expeditionen in die Karibik waren allerdings nicht von hier, sondern von verschiedenen kleinen Häfen am Atlantik ausgegangen. Schon zu seinen Lebzeiten jedoch, im Jahre 1504, wurde in der Stadt am Guadalquivir die Casa de la Contratación gegründet, jene staatliche Behörde, die den gesamten Handel mit den westindischen Kolonien steuern und überwachen sollte. Sevilla bekam sogar eine Monopolstellung für den gesamten Überseehandel und die Kolonisierung zugesprochen, ein unschätzbares Privilegium, das die Stadt bis behielt und das ihren Reichtum ganz maßgeblich begründete. Alle Schiffe zu den westindischen Besitzungen legten von den Kais am Guadalquivir ab und kehrten hierher zurück, nicht selten beladen mit Tonnen von Gold.
Aber was sich lesen könnte wie eine märchenhafte Geschichte ökonomischen Aufstiegs und Erfolgs war unlösbar verknüpft mit der schwärzesten Seite in der langen spanischen Geschichte. Die „Katholischen Könige“ Isabel und Fernando, die sich auch mit offizieller päpstlicher Erlaubnis so nennen durften, taten sich, genau wie Kolumbus, nicht nur durch große Frömmigkeit, sondern auch durch äußerste Brutalität in ihrem Vorgehen gegen „Ungläubige“ hervor. Nicht anders als perfide ist es zu nennen, wenn Juden, die sich der Zwangsbekehrung widersetzten, nicht nur ausgewiesen wurden, sondern der Krone ihr Eigentum überlassen mußten, die damit ihre leere Staatskasse auffüllte. 150.000 Juden verlassen unter den Katholischen Königen das Land, ebenso wie 300.000 nicht konvertierungswillige Moslems. Über dem ganzen Land hängt das drohende Schwert der Inquisition, das mit seinen ausgeklügelten Grausamkeiten im Namen der Kirche und des Wahren Glaubens praktischen jeden treffen kann.
Noch viel schlimmer als Juden und Moslems erging es den „Indianern“. Jenes friedliebende und im Gebrauch von Waffen völlig ungeübte Volk der Aruak, auf das der „Admiral der Weltmeere“ bei seiner ersten Entdeckungsfahrt stieß, auf den heutigen Bahama-Inseln, auf Kuba und Haiti, und dessen Angehörige die Spanier bei ihrer Ankunft freudig begrüßt und ausgiebig beschenkt hatten, war schon fünfzig Jahre später ausgerottet. Etwa 750.000 Menschen hatte dieses Volk gegen 1492 gezählt. Was der Descubridor in seinem Tagebuch als seine persönliche Berufung Gottes zur Heidenmission darstellte (er mag daran bis zu einem gewissen Grade sogar selbst geglaubt haben), war in Wahrheit nichts anderes als eine Gold- und Ruhmgier von so hemmungs- und skrupelloser Natur, daß es heute kaum vorstellbar erscheint. Die Palette der Maßnahmen gegen die eingeborene Bevölkerung der Indianer reichte, auch bei seinen Nachfolgern als „Vizekönig von West-Indien“, von bewußter Übervorteilung beim Abhandeln von Goldschmuck über systematische Ausbeutung, Verschleppung und menschenverachtende Behandlung in der Sklaverei bis hin zu reihenweisem sadistischem Verstümmeln und Abschlachten. Von den ursprünglich ca. 25 Millionen Einwohnern jener Neuen Welt, die die Spanier in Besitz genommen hatten, lebten 100 Jahre später nur noch eine Million.
Mit dem tonnenweisen Gold landeten also auch die indianischen Sklaven in Sevilla an, einer Stadt, die sich zudem als Zentrum der Inquisition in Spanien hervortat. Dies alles geschah gleichzeitig zu den Arbeiten an der Kathedrale, an den Reliefs des Retablo Mayor etwa oder des Chorgestühls, an dem Wandgemälde des San Cristóbal, am Renaissance-Geschoß der Giralda, gleichzeitig also – und im selben Namen der Kirche und des christlichen Glaubens – zu dem Hervorbringen noch heute bewunderter und bewundernswerter Kunst.
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