Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

II. Die gotische Kathedrale

 

II.1. Die Grundstruktur der gotischen Kirche

 

Die Hauptmoschee der Almohaden hatte die Form eines Rechtecks, mit der Längsachse in Nord-Süd-Richtung. Im Norden befand sich der Moscheehof und der Haupteingang, die heutige Puerta del Perdón, im Süden die Qibla-Wand mit dem Mihrab. Die Kirche, die die christlichen Eroberer nach 1248 im Betsaal einrichteten, ohne dessen Grundmauern oder Pfeiler zu verändern, war mit dem Chor nach Osten gerichtet. Das Querrechteck des Betsaals hatte sich so in ein Längsrechteck der Kathedrale verwandelt – denn Sevilla sollte natürlich wieder Bischofssitz werden, in Anknüpfung an die ruhmreichen westgotischen Zeiten eines Isidorus Hispalensis.

          Tatsächlich entstanden sogar zwei Kirchen in dem einstigen muslimischen Betsaal. Denn zusätzlich zu der Bischofskirche, die ja im wesentlichen durch willkürliche Abgrenzung einiger Raumteile des riesigen Saals mit Hilfe von Gittern definiert wurde, richtete man, ganz im Osten eine Capilla Real ein, eine Königskapelle. Fernando III. und Alfonso X. regierten von Sevilla aus das kastilische Reich, und so war in Sevilla eine offiziell den Monarchen vorbehaltene Kirche erforderlich. Das Domkapitel konnte also zu Beginn des 15. Jahrhunderts, angesichts des einsturzgefährdeten Moscheegebäudes, nicht allein über den Neubau einer gotischen Kathedrale entscheiden, denn der Abriß einer Capilla Real wäre über seine Befugnisse gegangen. Erst 1433 wurde die königliche Erlaubnis erteilt, und die Bauarbeiten konnten beginnen.

          Was in der almohadischen Zeit von al-Andalus als eine Moschee von gewaltigen Ausmaßen entstanden war – denn ihr Erbauer, der Emir Abu Yakub Yusuf hatte die Hauptstadt seines Reiches nicht nur mit dem Gedanken nach Sevilla verlegt, sie noch prächtiger zu gestalten als das vormalige Marrakesch, eine Absicht, die sich insbesondere in der neuen Hauptmoschee dokumentieren sollte, sondern er hatte auch den Titel eines Kalifen im Auge, in Anlehnung an das alte Umaiyaden-Kalifat von Córdoba –, das sollte im wiedereroberten christlichen Sevilla die größte und schönste Kathedrale auf spanischem Boden werden. „Laßt uns eine Kirche bauen, so groß, daß wir für verrückt gehalten werden“, soll einer der Domherren bei den Beratungen ausgesprochen haben. Immerhin gab es auch praktische Gründe für die großflächige Planlegung. Die Baukosten ließen sich beträchtlich vermindern, wenn man die alten Fundamente der Moschee auch für den Kirchenneubau verwendete. So lag es Nahe, die Kathedrale genau auf dem rechteckigen Grundriß des einstigen Betsaals zu errichten.

          Obwohl vom Betsaal also heute nichts mehr existiert, kann sich der Besucher, der durch den riesigen, hallenartigen Raum der Kathedrale von Sevilla schlendert, vielleicht doch noch eine Vorstellung von ihm machen. Beide, Betsaal und Kathedrale, haben genau dieselbe Größe. Den siebzehn Schiffen von einst, in Nord-Süd-Richtung, auf die Qibla-Wand zu, entsprechen genau die „sieben“ Schiffe von heute, von West nach Ost orientiert.

          Die gotische Kathedrale ist als eine fünfschiffige Basilika organisiert, mit breitem Mittelschiff, untereinander gleichbreiten Seitenschiffen und ebenfalls breiten, tiefen Seitenkapellen zwischen den Strebepfeilern. Das sechste der insgesamt neun Joche ist auf die Breite des Mittelschiffs ausgeweitet, so daß innerhalb des alles umfassenden Rechecks der Kathedrale ein Querschiff entsteht, mit einer quadratischen Vierung. Schon der Grundriß zeigt also die Form eines lateinischen Kreuzes, das dem Rechteck eingeschrieben ist.

          Einst führte, von der Puerta del Perdón ausgehend, die Längsachse der Moschee auf das zentrale, sowohl verbreiterte als auch erhöhte Mittelschiff des Betsaals zu. Das Querschiff der Kathedrale jedoch, als dessen wichtigste Nord-Süd-Achse, liegt nicht in der Mittellinie des Gesamtkomplexes. Der Haupteingang zum Kirchengebäude von der Nordseite, also dem Patio her, ist daher ebenfalls aus der Achse des ehemaligen Moscheehofs verschoben: die gewaltige Puerta de la Concepción liegt deutlich links von dem zentralen Brunnen.

          Interessant ist der streng geometrisch innere Aufbau des Grundriß’: alle vier verschiedenen Typen von Gewölbeeinheiten (Vierung, Mittel- und Querschiffjoche, Seitenschiffjoche und Seitenkapellen) stehen zueinander in Beziehung. Vierung und Seitenschiffjoche sind quadratisch, die anderen beiden rechteckig, mit einem Verhältnis der Breite zur Länge von 2 : 3. So ergibt sich auch bei der Fläche aller vier Typen ein Verhältnis von jeweils 2 : 3 gegenüber dem jeweils nächstgrößeren Typus.

          Den vier verschiedenen Gewölbeeinheiten entspricht, nach ihrer Größe geordnet, auch eine jeweils gestaffelte Raumhöhe. So überragt die Vierung die untereinander gleich hohen  Mittel- und Querschiffe, diese ihrerseits die ebenfalls untereinander gleich hohen Seitenschiffe und sie wiederum die Seitenkapellen. Jedem Typus entspricht aber auch eine eigene Belichtung, so daß auch die Fenster, wenn man sich einen vertikalen Schnitt durch das Gebäude vorstellt, vierfach übereinander angeordnet erscheinen: angefangen von denjenigen der Seitenkapellen ganz unten bis hin zu denen der Vierung, die sich über den Mittel- und Querschiffgewölben erheben.

          Im Gegensatz jedoch zu den Kathedralen der Hochgotik, auch denjenigen in Spanien, ist der Höhenunterschied zwischen Mittelschiff und Seitenschiffen relativ gering. Ganz im Einklang mit der allgemeinen Tendenz der Spätgotik, die sich in der Renaissance fortsetzen und verstärken sollte, strebt die Kathedrale von Sevilla weniger in die Überhöhung der zentralen Raumpartien, als vielmehr in die breite Einbeziehung der lateralen. So entsteht der Eindruck einer fast einheitlich gestalteten, großen und hohen Halle. Durch die breiten Abstände zwischen den Strebepfeilern, auch noch in den Seitenschiffen, wirkt diese Halle in allen Bereichen weit und geräumig.

Der hallenartige Raumeindruck, der fast an die deutschen Hallenkirchen der Spätgotik erinnert, mit ihrer jetzt völlig angeglichenen Höhe von Mittel- und Seitenschiffen, stellt ein zweites Merkmal dar, neben demjenigen der Grundrißgröße, das noch an den einstigen Betsaal erinnert.

          Ausgesprochen ungewöhnlich für eine Kathedrale ist der rechtwinklige Raumabschluß im Osten. Anstatt einer Chorapsis oder gar eines polygonal gebrochenen Chorumgangs mit Kapellenkranz findet sich hier nichts weiter als eine gerade Reihe von fünf weiteren Seitenkapellen zwischen den Strebepfeilern, entsprechend den fünf Schiffen der Kirche. Es dürfte klar sein, daß auch diese bauliche Lösung ihren Grund in den vorhandenen, hier wie überall linear angeordneten Fundamenten des einstigen Betsaals hatte.

          Wo aber befindet sich dann der Chor, das liturgische Zentrum des Gotteshauses? Die Antwort, die auf den ersten Blick verblüfft, wird nachvollziehbar, wenn man an die Vorgeschichte des Bauwerkes denkt. Hatten die christlichen Eroberer ihre provisorische Kirche, einschließlich des Presbyteriums mit dem Hauptaltar, als einen lediglich durch Eisengitter abgeteilten Raum im Inneren des großen Betsaals errichtet, und zwar nicht am Ostende des Raumes, denn dort befand sich die andere Kirche, die Capilla Real, so findet sich genau diese Anordnung in der gotischen Kathedrale wieder: der Chor ist weit in das Innere des Raumes verlegt. Tatsächlich ist er zweigeteilt: der Altarbereich, der das siebte und achte Mittelschiffjoch einnimmt, liegt östlich der Vierung, während der Coro, mit dem Bischofssitz und den Bänken für die Mitglieder des Domkapitels, die beiden Mittelschiffjoche westlich der Vierung besetzt. Beide Teile sind rückwärtig ummauert, also geradezu lettnerartig abgetrennt, zur Vierung hin jedoch lediglich durch hohe Eisengitter. Im Gegensatz zu den sonst einfachen vier- oder sechsteiligen Kreuzrippengewölben sind die Vierung sowie die beiden jeweils angrenzenden Gewölbejoche von Mittel- und Querschiff figuriert, d.h. ihre Rippen bilden komplizierte, sternförmige Muster, die jedoch mehr dekorativen als tragenden Charakter haben. So sind insgesamt fünf Mittelschiff- und drei Querschiffjoche – zählt man die Vierung jeweils mit – im Innern des Kirchengebäudes besonders hervorgehoben. Wiederum bilden sie die Form eines Kreuzes und in ihrer Gesamtheit eine Art von – jetzt nicht mehr „Kirche in der Moschee“, sondern „Kirche in der Kirche“.

          Diese Disposition des Chors verschafft der Kathedrale, auf verblüffend einfache Weise, aber auch ein Charakteristikum, das die flache Ostwand zuerst vermissen ließ: einen Chorumgang mit – wenn auch hier nicht zirkular, sondern linear angeordneten – Kapellen. Die mittlere von ihnen wurde im 16. Jahrhundert, im Stile der Renaissance, durch Anfügen einer Apsis zu einer eindrucksvollen Capilla Real erweitert, so daß auch in dieser Hinsicht der Zustand des einstigen Provisoriums wiederhergestellt war. Sowohl die almohadische Moschee, als auch die Kirche der Eroberer sind in der Kathedrale also bis heute anschaulich präsent geblieben.

 

 

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