Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

I.2. Der Patio de los Naranjos und eine kleine Geschichte von al-Andalus

 

Nicht nur Klöster, auch viele Kirchen, Stiftskirchen zum Beispiel und sogar Kathedralen, verfügten im Mittelalter über einen Kreuzgang. Einen stillen, beschaulichen Innenhof für die Mitglieder des Kapitels, des Stifts- oder Domkapitels, die sich ganz dem Dienst und dem Erhalt der Stifts- oder Bischofskirche widmeten, umgeben von hohen Mauern und Arkadengängen an den Seiten, dazwischen Grün, von der Sonne beschienen, und in der Mitte vielleicht ein Brunnen. Auch der große, rechteckig angelegte Bezirk der Kathedrale von Sevilla umschließt im Norden einen geräumigen, ummauerten Hof. Fast auf der ganzen Fläche ist er mit Orangenbäumen bestanden, gepflanzt in geraden Reihen und rechtwinkligem Raster. In den aus Backstein gemauerten Boden ist um jeden Baum eine viereckige Vertiefung eingelassen, der alcorque, der der täglichen Bewässerung dient. Die einzelnen Gruben sind durch ein System von kleinen Kanälen miteinander verbunden, aber nicht geradlinig, auf dem schnellsten Weg von einem Baum zum anderen führend, sondern in vielen eckigen Schlaufen und Windungen, so undurchschaubar für den Betrachter wie das Labyrinth aus Buchsbäumen im Park des Alcázar. Der Besucher des Innenhofs, der langsam unter der duftenden Orangenblüte und den reifen Früchten dahinschreitet, ist so damit beschäftigt, sich nicht den Fuß durch einen Fehltritt zu verstauchen, daß er kaum die vier marmornen Wasserspender bemerken wird, durch die das Aderwerk an jedem Morgen gespeist wird, aus unterirdischen Zisternen, die in die Zeit der Almohaden zurückgehen.

          Die Mitte des Patio de los Naranjos, des Orangenhofs, ziert ein schlichter, großer, kreisrunder Brunnen. In seinem Zentrum, etwas erhöht, eine flache Steinschale. Zweitausend Jahre ist sie alt. Die Römer schufen sie für ihre riesigen Thermen, die sich in der Calle Abades, nicht weit von der heutigen Kathedrale befanden; die Westgoten, dann die Umaiyaden, die Abbadiden und die Almoraviden nutzten sie weiter, und beim Bau der Almohaden-Moschee bestimmte man sie schließlich für den Brunnen, der den rituellen Waschungen diente, im Vorhof der neuen Mezquita Mayor.

          Im Jahr 206 v.Chr. hatten die Römer die „große Stadt“ besetzt, damals hieß sie Hispalis,  in einer der fruchtbarsten Ebenen des südlichen Hispanien gelegen: in den Auen und an den Ufern des Guadalquivir, des „großen Flusses“, den die Römer Baetis nannten. Hatten Iberer, die in der Bronzezeit aus Afrika eingewandert waren, die Stadt gegründet? Oder war es eine Niederlassung der Phönizier? In den Jahrzehnten vor der römischen Besetzung herrschten jedenfalls die Karthager über Hispalis. Doch nach ihrer Niederlage im zweiten Punischen Krieg, in der Schlacht bei Ilipa gegen P. Cornelius Scipio, auch Scipio Africanus d.Ä. genannt, mußten sie große Teile Hispaniens räumen. Zur größten römischen Stadt auf dem Boden der iberischen Halbinsel entwickelte sich dann aber doch nicht die alte Stadt am Guadalquivir, sondern Itálica, eine Neugründung Scipios für seine Kriegsveteranen, nur wenige Kilometer von Sevilla entfernt. Heute ist es eine Geisterstadt, ein mit Zypressen bestandener Ruinenpark um ein riesiges, verfallenes Amphitheater herum.

          Sechshundert Jahre lang behaupteten sich die Römer im südlichen Spanien, jenem Landstrich, der durch seine üppigen Ressourcen die Begehrlichkeit so vieler Völker weckte, aus dem Vorderen Orient, aus dem Maghreb oder aus dem mittleren und nördlichen Europa. Die Städte der Provinz Hispania Baetica, dem heutigen Andalusien, gehörten zu den einwohnerstärksten des römischen Reiches, und aus Itálica stammten gar zwei seiner späteren Kaiser, Trajan und Hadrian. Aber um 400 geriet das Weltreich von Norden her ins Wanken, und die Germanenstämme überrannten auch die Pyrenäenhalbinsel. Erst etablierten sich die Vandalen als neue Herrscher, dann die Westgoten, kurz darauf die Sueben und schließlich und endgültig, im Jahre 461, noch einmal die Westgoten. Ihnen gelang es, ganz Spanien zu erobern und dort ein Reich aufzubauen, daß 250 Jahre lang Bestand haben sollte.

          Obwohl die Germanen, die in dem romanisierten und katholischen Land nicht nur eine ethnische Minderheit blieben, sondern auch eine sprachliche und religiöse – sie hingen dem arianischen Glauben an –, Toledo zu ihrer Hauptstadt erkoren, spielte doch Sevilla auch in ihrem Reich eine entscheidende Rolle. 594 und 619 wurden hier, nachdem die westgotischen Fürsten den Katholizismus kurz zuvor angenommen und zur Staatsreligion erhoben hatten, Konzile abgehalten. Die beiden großen Gestalten dieser Konzile waren die Brüder Leander und Isidor, nacheinander Erzbischöfe der Stadt. Insbesondere letzterer, auch heute noch „Isidor von Sevilla“ genannt, gewann im Reich immer größere Bedeutung und Einfluß. Er sammelte, bewahrte und lehrte nicht nur das Geistesgut der Antike und des frühen Christentums und rettete es so über die Wirren des frühen Mittelalters hinweg, sondern er bemühte sich auch mit Erfolg, die Kirche als Autorität im Staatswesen einzubringen. So trafen die Konzile nicht nur kirchliche, sondern auch die maßgeblichen politischen Entscheidungen des Landes.

          Doch so stabil das Reich nach außen erschien, so wechselvoll waren und blieben doch die Schicksale ihrer Herrschenden. Kaum einer von ihnen starb eines natürlichen Todes. Streitigkeiten über die Thronfolge führten immer wieder zu rivalisierenden Machtgruppen, die ihre gegenteiligen Interessen skrupellos ausfochten.

          Schließlich, im Jahre 710, verfiel eine dieser Parteien, zu denen nicht nur die drei Söhne eines gerade verschiedenen Königs gehörten, die sich durch eine anderslautende Königswahl um ihr vermeintliches Erbfolgerecht betrogen fühlten, sondern auch der Erzbischof von Sevilla, auf die verhängnisvolle Idee, die Muslime von jenseits des Estrecho, der Meerenge von Gibraltar, um Hilfe zu rufen, um König Roderich zu stürzen und sich so doch noch an die Macht zu bringen.

          Keine 80 Jahre nach dem Tod Mohammeds wehten die grünen Fahnen des Propheten bereits im Maghreb, wo ein arabischer Statthalter des Kalifen von Damaskus residierte und über die heimische Berberbevölkerung herrschte. Musa ben Nusayr, der arabische Gouverneur, hatte auf diese Gelegenheit, mit seinen Truppen über den Estrecho zu setzen und erstmals europäischen Boden zu betreten, nur gewartet. Er bot seine Dienste bereitwillig an, schickte zuerst ein Berberkommando voraus und schlug die Truppen Roderichs bei Vejer de la Frontera. Wenige Monate später hatte sich der größte Teil Hispaniens den neuen, muslimischen Herrschern ergeben, die dieses Land fortan al-Andalus nannten.

          Bis auf einen kleinen, scheinbar unbedeutenden, aber dafür um so hartnäckiger Widerstand leistenden Zipfel im äußersten Nordwesten, einen Zipfel, der sowohl von seiner Ausdehnung, als auch der entschiedenen Qualität seines Widerstrebens her Ähnlichkeiten mit jenem kleinen Dorfe im Norden Galliens hat, das man mit der Lupe auf der Landkarte suchen mußte, ohwohl es den Römern derart zu schaffen machte – und tatsächlich hatten die Einwohner jener unwegsamen Gebirgsregionen Asturiens und Kantabriens auch ihrerseits schon den spanischen Römern am erbittertsten und längsten Widerstand geleistet, erst Augustus konnte sie unterwerfen–, bis auf diesen scheinbar unwichtigen Zipfel also hatten sich die Herrscher aus dem fernen Damaskus das weite Land der Pyrenäenhalbinsel Untertan gemacht. Nicht wissen konnten damals der Kalif und sein Statthalter, daß hier, unter den versprengten Westgoten an den rauhen Ufern des Atlantiks, der Keim jener Bewegung entstand, die, unter dem Namen reconquista bekannt, langsam aber stetig, in einem fast 800 Jahre währenden und schließlich doch erfolgreichen Prozeß, die Rückeroberung der ganzen Halbinsel vollzog.

          So unbeständig das Glück für die vielen westgotischen Herrscher gewesen war, die sich in schneller Folge auf dem Thron Hispaniens abgelöst hatten, so blieb es auch für die muslimischen Herrscher in al-Andalus. Fast 20 Statthalter regierten in den ersten vier Jahrzehnten. Araber und Berber stritten um die Macht, ein Bürgerkrieg entbrannte, schließlich konnten die Araber, die überwiegend aus dem Jemen stammten, die Oberhand behalten. Doch schon im Jahre 750 wurde nicht nur der Kalif der Umaiyaden-Dynastie von Damaskus, sondern mit ihm seine gesamte Verwandtschaft ermordet, die Ära der Abbasiden-Kalifen war angebrochen. Einzig Abd ar-Rahman, dem Prinzen der Umaiyaden, war die Flucht aus Damaskus gelungen. Auf abenteuerlichem, mehrjährigem Weg gelangte er nach al-Andalus und wurde dort zum neuen Herrscher, zum Emir erkoren wurde.

          Abd ar-Rahman I. war es, der nicht nur den Grundstein für ein zentrales, politisch und wirtschaftlich stabiles sowie kulturell blühendes Staatswesen in al-Andalus legte, sondern der in seiner Hauptstadt Córdoba auch jenes Bauwerk schuf, das alle bedeutenden späteren im gesamten westislamischen Raum, also weit über die Grenzen Spaniens hinaus, beeinflussen sollte: die Große Moschee. Auch die Moschee von Sevilla, ihr Turm, die Giralda, und der Moscheehof, mit der Steinschale aus einer römischen Therme, gehen in vielen Einzelheiten auf die Große Moschee von Córdoba zurück, vermittelt über Bauwerke etwa in Marrakesch oder im Hohen Atlas.

 Von all den muslimischen Dynastien, die in al-Andalus herrschen sollten, war die der Umaiyaden sicherlich die bedeutsamste. Sie blieb bis 1031 an der Macht, nahm ab 929 sogar selbst den Kalifentitel an und herrschte von Córdoba aus nicht nur über zwei Drittel der Pyrenäenhalbinsel, sondern später auch über einen Großteil des heutigen Marokko. Als das Imperium zerfiel, bildete sich eine Vielzahl kleiner Reiche aus, meist nur um eine der großen Städte herum. Einige von ihnen wurden von Arabern beherrscht, anderen von Berbern und wieder andere von Emporkömmlingen aus den Reihen der einstigen slawischen Söldnertruppen. Das einflußreichste dieser „Taifa“-Reiche war das der Abbadiden von Sevilla.

          Noch immer dominierten an den meisten Orten in al-Andalus Araber über die Berber. Aber das sollte sich 1086 ändern, als einige der Taifa-Regenten, die im Norden immer mehr Boden an den unerbittlich vorrückenden Alfonso VI. von Castilla y León verloren, die Almoraviden um Hilfe ersuchten, eine Berber-Dynastie, die bereits das gesamte nordwestliche Afrika kontrollierte. Diese kamen auch prompt und setzten die Taifa-Könige ab, verleibten al-Andalus ihrem Reich ein, das sie von Marrakesch aus verwalteten. Aber schon 60 Jahre später zerfiel auch diese Macht, wurde von einer anderen Berberdynastie ersetzt, jener der Almohaden.

          Wenn ein Minarett einen nahezu unverzichtbaren Bestandteil einer jeden Moschee darstellt, so auch ein offener, ummauerter Hof. Schon eines der ersten islamischen Gebetshäuser überhaupt, das Wohnhaus des Propheten Mohammed in Medina, bestand in der Hauptsache aus einem riesigen Innenhof, in dem sich die Gläubigen versammelten, mit überdachten, Schatten spendenden Galerien an den Seiten. Kühle Arkadengänge umfassen auch den Orangenhof der Kathedrale von Sevilla. Zwar ist aus den Zeiten der Moschee nur noch der Gang auf der Ostseite erhalten, doch hier lassen sich die Formen, die den Hof einst allseitig begrenzten, anschaulich studieren. Aus Ziegeln ist eine Folge von sieben großen Bögen gemauert. Jeder von ihnen besitzt die Form eines Hufeisens, das allerdings oben zugespitzt ist, nicht halbrund abschließt wie die Fensteröffnungen der Giralda. Die Kämpfer, die die nach innen weisenden Nasen der Bögen zu tragen haben, sind aus Quaderstein gemeißelt, auf der Unterseite mit einer Hohlkehle versehen, einer konkaven Wölbung also, die diejenige des Bogens spiegelt. Die Stützen der Bögen sind schlichte Mauerstücke, keine Marmorsäulen, keine Kapitelle zieren sie. Dieselben einfachen Backsteinpfeiler trugen einst auch das Dach des riesigen Betsaals. Die Glaubenslehre der Almohaden war streng, unter ihnen begann die Intoleranz der spanischen Mauren gegen Christen und Juden. Man vertrieb sie jetzt, nachdem alle drei Religionen jahrhundertelang in den Städten von al-Andalus friedlich zusammengelebt und gemeinsam große kulturelle Leistungen hervorgebracht hatten. Aber auch was sie an Gebäuden der Almoraviden vorgefunden hatten, zerstörten die Almohaden weitgehend. Auch jene, selbst glaubensfanatische Berber, waren in ihren Augen einem religiösen Irrweg anheimgefallen. Und die Treue zur Lehre des Propheten führte auch in der Architektur der Almohaden zur Strenge gegenüber der Tradition. All ihre Moscheen gehen von Aufbau und Gestaltung her auf diejenige in Tinmal zurück, jenem Felsennest in den marokkanischen Bergen, von dem ihre Bewegung den Ausgang nahm. So verwundert es nicht mehr, wenn Schlichtheit eines der bezeichnenden Merkmale ihrer Bauweise ist, nicht das Schwelgen in raffinierten Formen, Farben und Dekorationen wie in der Umaiyaden-Moschee zu Córdoba.

          Hofseitig sind den Backsteinpfeilern der Arkade Strebepfeiler vorgelegt. In ihrem Innern leiten Bleirohre das Regenwasser von den Satteldächern der Galerien in die unterirdischen Zisternen. Über den Bögen markiert ein schweres Gesims die Oberkante der Fassade. Das Dach selbst, mit der Traufseite zum Innenhof stehend, ist mit denselben treppenförmigen Mauerzinnen besetzt, die auch die Außenfronten des Moscheehofes bekrönen.

 

 

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