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Roland Salz                                                                      
                                          Meditationen über Topographie und Geschichte

Mäuseturm bei Holzerode

Mäuseturm bei Holzerode

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I.3. Der Mäuseturm und das Frühwarnsystem

 

Unvermittelt kann man in der Idylle der Natur, fernab von der Stadt, ja sogar von den wenigen dörflichen Siedlungen, auf Relikte stoßen, die aus einer ganz anderen Zeit stammen, einer Zeit, die den Romantikern so teuer war: dem Mittelalter. Einen guten Kilometer südwestlich von Holzerode steht, noch innerhalb der großen, kreisförmigen, ganz leicht gewellten Lichtung, mitten zwischen den Wiesen und neben einer lockeren Reihe von Pappeln, die Ruine eines Turms. Etwa dreizehn Meter Höhe mißt der einfache Bau aus graubraunem Kalkbruchstein, mit roten Sandsteinquadern an den Kanten und Einfassungen. Nach oben schließt er mit zwei noch gut erhaltenen Dreiecksgiebeln ab, die vermutlich ein einfaches Satteldach trugen. Nur schmale, schieß- schartenartige Fensteröffnungen sind in den beiden Giebeln und den Seitenwänden zu sehen. Mäuseturm wird diese Ruine landläufig ge- nannt, etwas despektierlich, wo es sich doch in Wahrheit um die Über- reste der Filialkirche St. Crucis zu Moseborn handelt, jenes im 12. oder 13. Jahrhundert gegründeten, mehrmals urkundlich erwähnten, wahr- scheinlich aber schon nach einigen hundert Jahren seiner Existenz wüst gefallenen Dorfes. Ein Langhaus hatte die mittelalterliche Wehr- kirche offensichtlich nie besessen, der einst kreuzgewölbte Kirchen- raum befand sich im Erdgeschoß des Turmes selbst.

          Nichts außer diesem Turm ist von der Wüstung Moseborn ge- blieben, keinerlei sichtbare Überreste mehr der Häuser, die sich sei- nerzeit um die Kirche herum lagerten, wie archäologische Grabungen beweisen. Und doch, bei ganz genauem Hinsehen sind in der umge- benden Flur die Formen von Hohlwegen auszumachen, die sich in die Landschaft eingeschrieben und so bis heute erhaltenen haben; denn der kleine, heute fast vergessene Ort lag am Schnittpunkt zweier mittelalterlicher Straßen, deren eine als wichtige Fern- und Handels- verbindung von Nordhausen und dem Harz kommend über Giebolde- hausen zur Hansestadt Göttingen führte.

          Neugierig geworden, folgen wir dem Hohlweg in Richtung Göt- tingen. Und tatsächlich, nachdem wir den steilen nordöstlichen Abhang des Göttinger Waldes erklommen haben, stoßen wir oben, an der Stelle, wo der Wald in eine Lichtung übergeht, erneut auf Ruinen. Direkt an dem hier von zwei querstehenden Landwehren flankierten Weg, liegt die ummauerte Anlage, an deren Ecke wiederum die Ruine eines Turmes steht. Diesmal handelt es sich aber nicht um einen Kirchturm, sondern um eine Warte, genauer: die Rieswarte, oder auch Nikolausberger Warte genannt, sowie die zu ihr gehörigen Wohn- und Wirtschaftsgebäude für den Wachmann. Im frühen 15. Jahrhundert wurde die Warte zusammen mit den Landwehren, die aus Gräben, Wällen und Dornendecken bestanden, hier an der Fernstraße nach Nordosten errichtet. Ein Schlagbaum wurde aufgestellt, der vom Turminnern aus bedient werden konnte. So wurde die Zufahrt zur Stadt kontrolliert, zugunsten der Stadtkämmerei konnte Wegegeld erhoben werden. Aber der Turm hatte noch eine andere, viel wichtigere Funk- tion. Gehörte er doch zu einem System von etwa zwanzig Warten und Ausgucken in der näheren Umgebung Göttingens, die untereinander und mit dem zentralen Wachturm der Stadt in Sichtkontakt standen. Auch die Türme einiger Dorfkirchen waren in dieses System ein- bezogen. Es handelte sich um ein ausgeklügeltes Frühwarnsystem: rückte der Feind heran, gaben sich die Wachmänner in den Warten gegenseitig Zeichen, und dann trat einer der wichtigsten Männer der Stadt in Aktion: der Türmer auf der Marktkirche St. Johannis blies in sein Horn.

          War aber die Verteidigung einmal alarmiert, wurde Göttingen zur Festung. Die Stadtkommandantur rief sogleich die Handwerker-In- nungen auf den Plan, deren jede einen bestimmten Abschnitt der Stadtbefestigung zu sichern hatte. Man war gut vorbereitet; niemals, auch nicht, wenn man, wie es nicht selten vorkam, auszog, um die umliegenden Burgen und Herrensitze, die den Handelsfrieden stören konnten, dem Erdboden gleich zu machen, verließen mehr als zwei Drittel der wehrfähigen Männer die Stadt. Und die Wehranlagen, die die Stadt umgaben, waren gewaltig. Für den Bau der Stadtmauern und Wallanlagen wurde ein größeren Aufwand getrieben als für alle anderen Gebäude der Stadt zusammen. Zwei Befestigungsringe schützten die Bewohner, neben der inneren Stadtmauer ein äußerer Wall mit Wassergraben, Bollwerken, Bergfrieden und komplizierten Stadttoren, zuletzt sogar mit Schanzen, Lünetten und Ravelins.

 

 

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