II. Ensemble Kirchhof, Aufbahrungshalle
Der Kirchhof liegt in der Mitte des Dorfes, oberhalb der in Ost-West-Richtung, also parallel zum Wilden Kaiser und in gleichbleibender Talhöhe verlaufenden Hauptstraße. Von rechteckiger Form, weist der Kirchhof mit seiner schmaleren und Eingangssseite nach Norden, zum Kaiser hin. Nach Süden steigt er, wie der gesamte Talboden, sanft an. Und auch die Pfarrkirche zum heiligen Erzengel Michael, im Herzen eben dieses Kirchhofs, ist mit ihrer Fassade nicht wie üblich - und wie es bis zum Jahre 1740 noch der gotische Vorgängerbau tat - nach Westen ausgerichtet, sondern ebenfalls nach Norden, hin zu jenem eindrucksvollen, in diesem Dorf allgegenwärtigen Gebirgszug.
Der Kirchhof wird von einer etwa anderthalb Meter hohen und fast einen Meter breiten, weißgetünchten Mauer eingefaßt, deren Oberseite allseitig nach außen abgeschrägt und mit unbehandelten Holzschindeln gedeckt ist. Der Kirchhof ist zugleich Friedhof. Die Gräber mit den kunstvoll verschnörkelten schmiedeeisernen Kreuzen, den roten, Tag und Nacht brennenden Grablichtern und den kleinen Emailportraits der Verstorbenen umgeben die Pfarrkirche auf allen Seiten. Aber vor und seitlich der Kirche sind es nur zwei gleichmäßige, lockere Reihen, und so kann man auf den mit unregelmäßigen Natursteinplatten gepflasterte Wegen oder auf dem feinen grauen Kies zwischen den Gräbern bedächtig um die Kirche herumgehen. Auf der Westseite der Kirche ist sogar noch Platz für einen schmalen Rasenstreifen, auf dem träge die nachmittägliche Sonne liegt.
Nur im oberen, neuen Teil des Kirchhofs, zwischen der Rückseite der Kirche und der Aufbahrungshalle am oberen Ende, sind es mehr Reihen von Gräbern, und so verstärkt sich hier der Eindruck des Friedhofes. Immer sind ein oder zwei ältere Frauen irgendwo damit beschäftigt, die ausgebrannten Grablichter zu erneuern, die leuchtend roten und gelben Blumen zu gießen und abgefallene Blüten unauffällig zu entfernen. Die Schalen mit dem geweihten Wasser auf allen Gräbern; meist abgedeckt, manchmal aber auch offen und mit einer kleinen Blume darin: der Blütenkopf ist versenkt, während der Stengel nach oben herausragt.
Die Aufbahrungshalle ist das einzige moderne Gebäude in dem ansonsten einheitlichen barocken Ensemble, das neben der Pfarrkirche St.Michael noch aus der kleinen St.Anna-Kapelle besteht, am westlichen Rand des Kirchhofs gelegen, etwas hinter die Kirche zurückgesetzt und mit ihrem Eingang ebenfalls nach Norden ausgerichtet, und der Seelenkapelle, einem offenen Bildstock, der in die Westmauer integriert ist, aber weiter vorn, auf der Höhe des Hauptportals der Kirche und diesem zugewandt. In die schwere, etwa drei mal drei Meter messende Doppeltür aus Holz der in den sechziger Jahren erbauten Aufbahrungshalle sind vier große, nahezu quadratische Bronzeplatten eingelassen, die als Reliefzeichnungen und in stark stilisierter Weise die vier menschlichen Lebensalter thematisieren, jeweils dargestellt anhand eines Paares: da ist die Unbeschwertheit zweier spielender Kinder, jedes in sein eigenes Tun versunken, zugleich aber mit einem natürlichen Bewußtsein des anderen; eine strahlende Sonne mit Vögeln am Himmel, ein junger Baum, Hände, die sich weit hinaufrecken nach einem Ball. Dann die junge Braut mit dem geflochtenen Stirnband und den Blumen in der Hand, vor einer Kirche, die unverkennbar Züge derjenigen von Ellmau trägt und zu der sie der Bräutigam führt, den Weg mit dem erhobenen Arm weisend; auf der anderen Seite des Bildes, hinter den Figuren, ein schlanker, hochaufgeschossener Baum, dessen Früchte sich gerade zu entwikeln beginnen. Das dritte Bild zeigt als Mittelpunkt das erbaute Heim in Gestalt eines Tiroler Landhauses; links und rechts vor ihm sitzen, in statischen Posen, Vater und Mutter, außen flankiert von prall tragenden Obstbäumen; während der Hausherr diagonal in eine unbestimmt Ferne schaut, sieht die Mutter, an die sich ein Junge und ein Mädchen lehnen, beide von Energie erfüllt wie die kreisrunden Baumfrüchte, ihn mit einem Ausdruck an, der unbestimmt bleibt. Die letzte Tafel schließlich zeigt das alte Paar allein; kein Mensch und kein Ding ist außer ihnen zu sehen, sie sind nach all dem Geschenkten und dem Vollbrachten ganz auf sich zurückgeworfen; während das Mütterchen in sich gekehrt auf einer niedrigen Stufe hockt, in ein Kopftuch gehüllt, das sie vor dem rauhend Wind schützen soll - die Sonne hat sich hinter eine Wolke zurückgezogen -, weist ihr Gatte, mit Bart und Stock, zwar immer noch aufrecht stehend, den Blick aber ebenfalls schon nach unten geneigt, mahnend mit dem Finger auf eine beinahe abgelaufene Sanduhr.
Die Stirnseite im Inneren der Aufbahrungshalle wird, wie man durch kleine seitliche Fenster sehen kann, ganz von einem Sgraffito eingenommen, das - überlebensgroß - den auferstandenen Christus zur Darstellung bringt.
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