Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

V. Pfarrkirche: Außenbau

 

Öffne ich nun die Holztür der St.Anna-Kapelle wieder von innen und genieße für einen Moment den Kontrast zwischen denjenigen Sonnenstrahlen, die drinnen die Wabenmuster der Fenster auf die hellen Holzbohlen werfen, und den anderen, grelleren, die draußen unbeweglich auf dem hellgrauen Kies liegen, so fällt mein Blick, gelenkt von dem Durchgang zwischen den beiden Gräberreihen, der geradewegs von der Tür der Kapelle aus verläuft - auf das Massiv des Wilden Kaisers. Meine Betrachtung der jetzt ganz schneefreien Kare, die hinter den vorgelagerten, waldigen Anhöhen ansteigen, der zerklüfteten Felswände mit ihren nachmittäglichen Licht- und Schattenspielen zwischen den senkrechten Furchen, der hundertfältigen Gipfel und Gipfelchen, um die ganz kleine Wolken spielen, wird unterbrochen von einem kleinen Bauwerk, dessen merkwürdiges Drängen jetzt, wo ich mich ihm auf dem feinen grauen Kies, zwischen den Gräberreihen hindurch stetig genähert habe, immer auffälliger geworden ist, von einem elegant geschwungenen Holzschindeldach, das im Gegensatz zu dem in sich selbst ruhenden Gebirge so eindringlich zur Seite weist: der Seelenkapelle. Zurück zum Kirchhof also, zu seinem Zentrum, der Pfarrkirche St.Michael.

          Durch die beiden unterschiedlichen Anbauten links und rechts des Chorjoches ist der Außenbau der Pfarrkirche - entgegen seinem fast symmetrischen Grundriß - extrem ungleich. Während sich auf der rechten, westlichen Seite ein Schleppdach mit derselben, steilen Dachneigung des Langhauses über die Sakristei herunterzieht, die zwar dennoch aus zwei, wenn auch niedrigen Geschossen besteht, durch das Dach aber quasi zu Boden gedrückt wird, steigt auf der Ostseite der Kirchturm (von demselben quadratischen Grundriß wie die gegenüberliegende Sakristei) schlank und hoch über das Langhaus empor. Im unteren Teil praktisch fensterlos, zeigt er, unter dem Helmansatz, aber schon weit über der Firsthöhe des Langhausdaches, auf jeder Seite ein großes rundbogiges Schallfenster, von einer lamellenartigen Holzlade verblendet. Oberhalb des ockerfarbenen Kranzgesims steigt ein achteckiger Pyramidenhelm ausgesprochen spitz auf die beachtliche Höhe von 53 Metern hinauf. (Ursprünglich war der Helm noch deutlich höher, aber nachdem ihn vor etwa 120 Jahren ein Sturm abknickte, gab man sich mit der heutigen Höhe zufrieden.) Zwar ist er wie das Dach des Langhauses mit Holzschindeln gedeckt, aber hier sind sie nicht naturbelassen, sondern tannengrün gestrichen. Das Auffälligste am Turm aber sind die allseitigen, glockenförmig geschweiften Spitzgiebel über dem Kranzgesims. Mit ihrer Hilfe wird der quadratische Grundriß des Turmkörpers in den achteckigen des Helms überführt, und in ihren Giebelfeldern haben vier große Turmuhren Platz.

          Die Fassade der Pfarrkirche liegt fast immer im Schatten. Nur an späten Nachmittagen wie diesem schafft es die Sonne, ein wenig um die Nordwestecke der Kirche herumzukommen und das gemalte Medaillon unter der obersten Welle des geschweiften Giebels zu beleuchten, das Maria mit dem Kind in den Armen zeigt; ein Marienbild nach dem Typus der "Eleusa" (griech. die Barmherzige): das Kind wendet sich der Mutter zu und schmiegt seine Wange an die ihre.

         Bis auf das Portal und den Portikus haben alle Fassadenelemente etwa gleiche Größe: in der Mittelachse, unter dem Medaillon das kleine Rundfenster, darunter ein kleines Rundbogenfenster, darunter die Rundbogennische mit der Skulptur des hl. Michael, der damit dicht über dem Portikus steht. Und die vier Rundbogenfenster in den äußeren Achsen der Fassade: etwas unterhalb der Höhe der Nische einerseits, und neben dem Portal im Erdgeschoß andererseits. "Quis ut deus" steht auf dem Schild, das der Patron der Kirche vor sich niedergestellt hat, mit der unteren Spitze genau auf dem Kopf des grünen Drachens, auf dessen Körper Michael selbst triumphierend steht: "der ist wie Gott", die lateinische Übersetzung des hebräischen mika'el. Ursprünglich muß er ein gezogenes Schwert in der anderen, der linken Hand gehalten haben; aber davon ist nicht viel mehr als der Griff übriggeblieben: mit dem erhobenen Schwert hätte die Statue auch nicht in die Nische gepaßt. Von allen Ellmauer Darstellungen des Erzengels gefällt mir diese trotzdem am besten; das jugendliche, schöne, leicht nach oben gewandte Gesicht der in weichen Farben gefaßten Skulptur strahlt - im Gegensatz etwa zur Darstellung in der Seelenkapelle, aber auch derjenigen auf dem zentralen Deckenfresko im Innern der Kirche - den Ernst, die Überlegenheit und die Gelassenheit aus, die dem Sieger über den Satan gerade hier, an dieser bevorzugten Stelle des Kirchengebäudes gebühren.

          Vor dem Portal stehend schaut man zu Michael empor, und je nachdem, ob man sich genau vor oder etwas seitlich vom Kircheneingang befindet, schwebt das lateinische Kreuz, über der Messingkugel auf dem Dach des Portikus, unmittelbar vor, oder aber etwas neben der Skulptur.

 

 

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