Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

VI. Pfarrkirche: Gang auf den Eingang zu, Portikus

 

Noch einmal will ich auf den Eingang der Kirche zugehen, diesmal von vorn, von der Dorfstraße aus, durch den Haupteingang des Kirchhofs. Die Dorfstraße ist eng, verwunden, gefährlich: Häuser nehmen die Sicht, Autos fahren zu schnell. Ein Blockhaus ist direkt gegenüber vor die Kirche gebaut und versperrt dem vor ihrem Eingang Stehenden den Blick ins Tal. Heute ist Ellmau nicht mehr das Dorf, das es offensichtlich noch war, als jenes Gnadenbild von 1804 entstand: es zeigt eine Pfarrkirche St.Michael, deren Kirchhof nach Norden hin auf eine freie Wiese mündet, nur links und rechts von ihr einige wenige Tiroler Bauernhäuser; genauso auf dem Hintergrund des Deckenfreskos im Innern der Kirche, über der Orgel, das die von einem Engel gerade noch rechtzeitig vereitelte Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham darstellt. Und wenn dieses Buch fertig ist, dann wird Ellmau nicht mehr das sein, was es heute noch ist, da ich es schreibe: gerade geht man daran, auf den großen freien Wiesen zwischen Bundesstraße und Kaisergebirge, den Wiesen, die man immer im Blick hat, wenn man sich von Ellmau aus dem Kaiser zuwendet, rings um das Doppelsilo der seeligen Witwe Mödlinger also, einen Golfplatz anzulegen.

          Ich stehe vor der Wand des der Kirche gegenüberliegenden Blockhauses, auf dem nur wenige Dezimeter breiten Gehsteig, und blicke zur Kirche. Die Straße ist frei, ich gehe auf die Eingangsstufen zum Kirchhof zu, die unmittelbar hinter dem gegenüberliegenden Gehsteig ansetzen. Am oberen Ende der Stufen sofort das kunstvolle Doppeltor aus Eisengitter, ohne vermittelnden Absatz, alles sehr eng. Doch nachdem ich die beiden flankierenden Türmchen in der Kirchhofsmauer passiert habe, mit ihren konkav gewölbten, nach oben spitz zulaufenden Blechhüten, gerate ich abrupt in den Bannkreis der Kirche, der Geräumigkeit und Eleganz vermittelt, Ruhe und Abgeschiedenheit.

          Auf dem hier breiten Weg aus Natursteinplatten schreite ich geradewegs auf das Portal zu, ganz langsam; denn ich will die wunderbar einfache, geschwungene Symmetrie der Fassade genießen, und mehr noch das, was beim Näherkommen passiert. So fasziniert bin ich von dem Spiel der Flächen, die in der Nähe immer mehr zu Körpern werden, die sich gegeneinander verschieben, dann sogar verdecken, daß ich noch einmal zurückgehe zum Tor; noch einmal setze ich zu dem kleinen Weg an; dann ein weiteres Mal, und schließlich kehre ich sogar wieder auf die andere Straßenseite zurück und starte - gerade daß ich nebenbei noch auf die Autos achtgebe - das Ganze von neuem.

          Aus der Ferne, besonders dann, wenn man sich noch außerhalb des Kirchhofs befindet, ein paar Stufen tiefer als der Kirchhof also, wirkt die Fassade der Kirche weitgehend flächig. Die Augen des Betrachters befinden sich etwa auf der Höhe der Portalschwelle, und so erscheinen die beiden Marmorstufen vor dem Kircheneingang als bloße waagrechte Linien; wie weit diese Stufen vor der Eingang liegen, ist aus dieser Perspektive nicht auszumachen. Und auch der Portikus, das von zwei Marmorsäulen getragene Vordach, ist, wendet es doch nach vorn selbst bloß eine von geschwungenen Linien begrenzte Fläche, in seiner Tiefe - ja überhaupt in seiner Körperhaftigkeit - aus der frontalen Fernsicht nicht zu bestimmen. Die beide Säulen aus rosafarbenem Kramsacher Marmor und der sich über ihnen wölbende Korbbogen bilden von hier aus betrachtet einen zweiten Rahmen um die Portaleinfassung, die ebenfalls aus rosafarbenem Marmor gearbeitet ist und über den deutlich betonten Kämpfern - sie entsprechen den Kapitellen beim Übergang der Marmorsäulen zum geweißelten Dachkörper des Portikus - einen Korbbogen beschreibt. Der äußere Rahmen könnte sich auch in der Flucht der Fassade befinden. Und die Giebellinie des als Ganzes geschweiften Satteldachs des Portikus bildet - ebenfalls scheinbar direkt an der Fassadenwand - eine Entsprechung zum Giebel der Kirche, nimmt sie doch, wenn man den Blick langsam hebt, dessen Verlauf im Kleinen vorweg.

          Je näher man dem Portal aber kommt, desto deutlicher tritt die Plastizität der Kirchenschauseite in Erscheinung. Zuerst wird, mit dem Anstieg zum Kirchhof, die Fläche erkennbar, die von den zwei Marmorstufen umrahmt wird, und die sich - im rechten Winkel zu ihr stehend, also zugleich einen Raum bildend - vor der Fassade ausbreitet. Auf dieser "Krepis" rücken nun, beim Näherkommen, die beiden Marmorsäulen immer weiter von der Fassade weg; und mit ihnen entpuppt sich - denn nun wandert der Blick unweigerlich nach oben, will er doch wissen, was diese Säulen eigentlich tragen - die von dem äußeren Korbbogen unten und der dem Kirchengiebel entsprechenden geschweiften Linie oben gebildete Fläche als das Giebelfeld eines Portikus.

          Immer weiter schiebt sich die geschweifte Giebellinie des Portikus an der Kirchenfassade nach oben, bis sie - als ich gerade die beiden Marmorstufen nehme - den freistehenden Giebel der Kirche erreicht und die Fassade ganz verschlungen hat.

          Mein Blick fällt auf die Tür. Doch bevor sie näher beschrieben werden soll, muß erwähnt werden, daß man sich ihr auch auf ganz anderen Wegen nähern kann: zum Beispiel durch eines der beiden Gittertore an den vorderen Ecken des Kirchofs. Die Effekte, die sich ergeben, wenn man von einem dieser Tore aus, also diagonal auf den Kircheneingang zugeht, sind ganz anderer Natur, nicht weniger interessant und mit Sicherheit vom Architekten der Kirche ebenfalls sorgfälltig bedacht worden, vor über 250 Jahren. Auch die Seelenkapelle spielt, wenn man den ihr gegenüberliegenden Seiten-Vordereingang wählt, in diesem barocken Verwandlungsstück ihre Rolle.

 

 

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