X. Der Chor und sein Hochaltarretabel
Der Chor der Kirche zieht den Besucher nicht unbedingt durch seine größere Helligkeit an. Das erste Chorjoch ist völlig vermauert, wie wir gesehen hatten, und auch die beiden anderen Fenster auf der Südseite sind schmal und setzten wegen der vorgelagerten Sakristei sehr hoch an. Und selbst die dreibahnigen mittleren Fenster des Chorscheitels vermögen im Normalfall nicht genug Licht zu spenden, um das zu beleuchten, was den eigentlichen Schatz dieses Chores und dieser Kirche ausmacht: das Hochaltarretabel.
Ganz auf diesen großen, vierflügeligen Wandelaltar ausgerichtet, der, auf einem kleinen steinernen Altarunterbau stehend, mit seiner oberen Hälfte in die Fensterzone hineinragt, tritt der Rest des Chorrau- mes weitgehend zurück. Lediglich in einer großen, spitzbogigen Sitz- nische mit schwerem, wulstigem Maßwerk sind drei gotisierend ge- schnitzte Holzstühle aufgestellt, einige weitere entlang der rückwärtigen Mauer, die durch den großen Altaraufsatz im Dunkeln liegt. Der Beginn der Apsis ist durch breite Runddienste markiert, die die Gewölberippen des Chorschlusses abstützen, ebenso wie die vier sehr schmalen, zwi- schen den fünf Seiten des Achtecks aufgehenden Dienste. Alle Rund- dienste sind im Stil der Langhauspfeiler dreifarbig bemalt und laufen ohne Kapitell in die Gewölbezone fort, der Übergang ergibt sich op- tisch nur durch den Wechsel zu den dort verwandten anderen Farben. Ähnlich wie die Scheidbögen des Langhauses sind auch die Fenster- laibungen, die Sitznische und die Laibung der Sakristeitür dezent mit dunkelroten Linien auf weißem Grund gefaßt. Dieses warme, dunkle Weinrot ist die Farbe, die sowohl an den Stützen im Raum und entlang der Wände auftritt als auch an den Gewölberippen und den Fenstern. Es ist die Grundfarbe, die den ganzen Kirchenraum bestimmt und die zum Altaraufsatz überleitet.
Das Göttinger Hochaltarretabel gilt, sowohl was seinen Erhal- tungszustand anbelangt als auch seine künstlerische Qualität, als eines der herausragenden seiner Zeit und in dieser Region. „Im Jahre des Herrn 1402, am Tag vor dem Fest des heiligen Martin, wurde dieses Werk vollendet“, lautet eine lateinische Inschrift in gotischen Majuskeln auf Goldgrund am unteren Rand der ersten Wandlung. Der Altaraufsatz wurde also zeitgleich mit der Kirche fertiggestellt. Er ist für die Göttin- ger Jacobikirche geschaffen worden und hat nie irgendwo anders gestanden. Alle Kriege und Umbrüche in über 600 Jahren hat er unbe- schadet überstanden, und das ist wahrlich schon an sich etwas Außer- gewöhnliches. Wie viele andere bedeutende Retabel wurden von einer Kirche in die andere transferiert, von einem Museum in das andere, und wie viele von ihnen verloren dabei einige ihrer Bestandteile oder gingen völlig unter. Manche Werke sind heute über mehrere Museen in unterschiedlichen Ländern verteilt und können so praktisch niemals im Zusammenhang betrachtet werden: erinnert sei an den Jacobizyklus eines böhmischen Meisters aus der Zeit um 1440, dessen Flügel sich heute in Museen in Prag, Brünn, Wien und Nürnberg befinden.
In geschlossenem Zustand zeigt der Doppelflügelalter der Jacobikirche die sog. Werktagsseite. Dies ist also die Ansicht, die sich früher den Besuchern der Kirche die meiste Zeit des Jahres über darbot. Jetzt ist das Retabel vergleichsweise schmal, ragt, auf seiner sich nach oben verbreiternden Predella stehend, die, selbst bereits aus Holz, mit einer geschnitzten Maßwerkarkade geschmückt ist, an den Seiten kaum über den Altartisch hinaus. Öffnet man die äußeren Flügel, präsentiert sich die Sonntagsseite. Jetzt spannt sich das Retabel fast über die gesamte Breite des Chorscheitels, und damit die schweren Holzflügel sicher stehen, sind an den schräggestellten Wandstücken der Apsis links und rechts steinerne Konsolen angebracht, auf die die Flügelenden aufgelegt werden. Diese Konsolen sind sicherlich schon beim Neubau der Kirche speziell zu diesem Zweck angelegt worden und zeigen zwei grimmig dreinschauende Personen mit Mantel und Kopfbedeckung, einen bärtigen Mann mit einem Dolch am Gürtel und eine Frau mit wallend hervorquellendem Haar, die gerade mit ge- fletschten Zähnen in ein großes, dreieckiges Brötchen beißt.
Die äußeren Flügel des Altaraufsatzes und die Außenseiten der inneren Flügel sind bemalt. So zeigen sich auf der Werktagsseite acht Bilder aus dem Leben des heiligen Jakobus, auf der Sonntagsseite werden sechzehn Szenen aus dem Leben Christi dargestellt. Bei der zweiten Wandlung dagegen öffnet sich mit der Festtagsseite ein etwa dreißig Zentimeter tiefer Schrein mit Schnitzwerk, und zwar nicht nur hinter den inneren Flügeln, sondern auch in diesen selbst. Über einem Sockelfries mit Reliefs einiger von Wein umrankter Propheten und einem – offensichtlich auferstandenen – Christus in der Mitte, der mit den Händen auf seine Wunden deutet, einem sog. Schmerzensmann, befinden sich in einer Reihe insgesamt 18 vollplastische Holzskulp- turen. Je acht Heilige stehen links und rechts einer zentralen Bank, auf der Christus links (von ihm selbst aus gesehen) und Maria rechts Platz genommen haben. Jeweils zwei Figuren werden von einem gemein- samen, aufwendig geschnitzten Baldachin überfangen, so auch das zentrale Paar in der Mitte.
Heiligenskulpturen mit ihren Attributen unter Baldachinen ste- hend, Christus und Maria auf einer Bank, von Wein umrankte Prophe- ten des Alten Testaments, darübergeklappt ein Christuszyklus mit den vielen „üblichen“ Szenen aus der Jugend und der Passion und zu guter Letzt, ganz obenauf, noch eine Heiligenvita, die einem schon auf den ersten Blick wie eine Kopie des Lebensweges Christi anmutet: ist das alles heute noch interessant? Lohnt das einen genaueren Blick?
Dieser Blick wird einem zumindest nicht gerade leicht gemacht. Aufgrund seines unschätzbaren Wertes kann das Retabel nicht aus der Nähe betrachtet werden, der Besucher der Kirche muß in einigen Metern Abstand hinter einem Seil verbleiben. Die Entfernung ist damit schon zu groß, um die Details wahrzunehmen, die sein Interesse wecken würden. Das ist schade, aber unvermeidlich. Es wäre im Chor der Kirche aber normalerweise auch zu dunkel. Zudem würde man beim Herantreten und längeren Verweilen vor dem Altar die anderen Besucher stören, die vielleicht irgendwo in den hinteren Reihen in ein Gebet oder eine andächtige Betrachtung vertieft sind. Und noch ein letztes Problem: es ist immer nur eine Seite des Retabels sichtbar; der Betrachter kann nicht selbst die schweren Flügel umlegen, um die drei Ansichten zu vergleichen.
Die Göttinger Kunstgeschichtler haben die Frage, ob sich eine genauere Betrachtung des Jacobi-Retabels lohnt, natürlich mit „Ja“ beantwortet. Und so haben sie zu diesem Gegenstand 2002 nicht nur ein zweitägiges Symposion in Göttingen abgehalten, unter Beisein namhafter Kollegen aus ganz Deutschland, sondern die beteiligten Referenten haben ihre Forschungsergebnisse anschließend in einer Monographie veröffentlicht, die der Göttinger Verlag Vanderhoeck & Ruprecht 2005 erschienen ließ. Diesem so umfang- wie aufschluß- reichen Werk sind am Ende drei Falttafeln beigelegt, die in großem Format alle drei Ansichten des Retabels gleichzeitig betrachten lassen!
Die Einladung zur genaueren Analyse des Kleinods der Jacobi-Kirche, die dieses schön gestaltete Buch ausspricht, sollte der an der Kirche Interessierte unbedingt wahrnehmen. Er wird belohnt mit Erkenntnissen, die nicht auf der intellektuellen Verständnisebene haltmachen, sondern als bildliche unmittelbar erfahrbar und von ganzheitlicher Natur sind.
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