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Roland Salz                                                                      
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Romanisches Kirchensiegel

Jacobikirche Göttingen Romanisches Kirchensiegel

II. Der gekrönte Jakobspilger

 

Die alte Heerstraße durch das Leinetal verlief natürlich nicht in dessen sumpfigen Niederungen, sondern etwas oberhalb, auf der östlichen Talseite. Noch heute stößt man auf den Feldwegen im Norden oder Süden Göttingens an vielen Stellen auf den Flurnamen Hellweg, was soviel wie „Weg am Hang“ bedeutet und womit im Mittelalter die alten Fernstraßen bezeichnet wurden. Etwa auf der Höhe, wo sich in den Talauen die Pfalz Gronau erhob, lag an der alten Heerstraße das Dorf Gutingi, etwa in der Mitte zwischen den beiden größeren Dörfern Geismar im Süden, in dem das Erzstift Mainz einen noch immer geschlossenen Fronhofverband besaß, und Weende im Norden, des- sen Besitz überwiegend bei den Herren der benachbarten Burg Plesse lag. Auf verschlungenen, heute nur noch schwer rekonstruierbaren Wegen des Tausches und der Erbfolge war ein beträchtlicher Besitz im heutigen Göttinger und im Northeimer Raum 1152 an Heinrich den Löwen gelangt. Dabei handelte es sich nicht um den königlichen Besitz, der jetzt bei seinem Vetter, dem Stauferkönig Friedrich I. Barbarossa lag, sondern um Besitz, den die sächsischen Liudolfinger einstmals als Grafen in diesem Raum innegehabt hatten und den sie bei Antritt der Königswürde 919 an von ihnen neu eingesetzte Grafen hatten abgeben müssen. Friedrich erkannte nun seinerseits, daß seine Machtstellung im Harz-Weser-Leineraum nicht mehr zu halten war und übertrug den Welfen im Tausch eine Vielzahl hier gelegener königlicher Besitzungen, nicht jedoch die Pfalz Grona.

          Auch der überwiegende Besitz in Gutingi war 1152 an Herzog Heinrich gelangt. Und dieser war es vermutlich, der die Stadt Göttingen planmäßig anlegte. Einerseits war die Lage an der alten Heerstraße günstig sowie die Nähe einer Leinefurt, andererseits war durch die drei alten Döfter Weende, Geismar und Grone, zwischen denen sich Gutingi befand, ein gewachsener Siedlungsraum vorhanden, der sich als Keimzelle für eine Stadtgründung eignete. Vor allem aber konnte von hier, aus der räumlichen Nähe heraus, die noch immer königliche und damit staufische Pfalz Grona in die Schranken verwiesen werden.

          Heinrich legte die Stadt in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhun- derts aber etwas unterhalb des alten Dorfes Gutingi an, vor allem wohl deshalb, weil das Gelände hier flacher und zur Anlage von Wasser- gräben besser geeignet war. Tatsächlich blieb das „Alte Dorf“ mit sei- ner Kirche St. Albani außen vor den Stadtmauern. Die alte Heerstraße wurde zwischen Weende und Geismar ebenfalls nach Westen verlegt und führte nun als Weender Straße und Hauptverkehrsachse durch das ummauerte Göttingen.

          Wahrscheinlich aus einem ehemaligen Königshof entstand an der Nordostecke der Stadt ein Burgbezirk, von dem aus die Welfen die Stadt zu beherrschen trachteten.

          Das spätere Schicksal Heinrichs des Löwen, des mächtigen Herzogs von Sachsen und Bayern, ist hinlänglich bekannt. Er hatte den offenen Konflikt mit seinem Vetter Friedrich gesucht und war ihm schließlich rechtlich und militärisch unterlegen. Alle Reichslehen wurden ihm aberkannt, nur seinen Eigenbesitz in Braunschweig und Lüneburg durfte er behalten. Am 25. Juli 1182, dem Namenstag des Heiligen Jakobus des Älteren, trat er seine Verbannung an und ging zu seinem Schwiegervater, dem englischen König Heinrich II. Plantagenêt, in die Normandie. Noch im selben Jahr unternahm er eine Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. Es entspricht einer alten Tradition adeliger Jakobspilger, nach ihrer Rückkehr Jakobsbruderschaften und Jacobikirchen zu gründen. Es ist daher gut möglich – obwohl keine schriftlichen Quellen darüber existieren –, daß es daher Heinrich war, der in seiner Stadtgründung Göttingen die Jacobikirche ins Leben gerufen hat. Sie wurde unmittelbar an der Weender Straße angelegt, also an der Heerstraße, wie es für Kirchen üblich war, die dem Patron der Pilger und Wanderer geweiht waren. Noch heute führt ein Zweig der deutschen Jakobswege durch die Stadt, die Via Scandinavica von Fehmarn über Lübeck und Hannover nach Eisenach in Thürningen. Die alte Wegstrecke von Göttingen nach Eisenach, die zu großen Teilen auf dem ehemaligen Zonengrenzstreifen verläuft, wird zur Zeit gerade wieder neu erschlossen und markiert.

          Die Göttinger Jacobikirche liegt aber auch  in unmittelbarer Nachbarschaft des ehemaligen welfischen Burgbezirks. Für das 13. Jahrhundert ist überliefert, daß auf ihrem Kirchhof die Urkunden der Stadtherren besiegelt wurden. Auch dies spricht dafür, daß die Kirche den Stadtherren besonders verbunden war, was eine auf sie zurückgehende Gründung wahrscheinlich macht. Die Jacobikirche war daher nicht primär als Pfarrkirche gedacht, sondern als Kirche für den Herzog, wenn er in der Stadt weilte, und seine Amtleute aus dem Burgbezirk.

          In Ermangelung schriftlicher Überlieferung ist der Historiker in Bezug auf die Rekonstruktion die Gründungsgeschichte Göttingens und der St. Jacobikirche auf Indizien angewiesen. Archäologische Befunde verweisen auf eine Anlage der Stadt in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhundert, also die Ära des Löwen. Für die Bestimmung des Gründers der Jacobikirche wird aber auch noch ein altes romanisches Siegel dieser Kirche herangezogen, offenbar das erste überhaupt. Es ist leider seit dem 19. Jahrhundert aus dem Pfarrarchiv von St. Jacobi verschwunden, lediglich ein einziger Lackabdruck existiert noch. Innerhalb der Umschrift aus gotischen Majuskeln mit dem Text „Sʼ. ECCLʼE. SCI.  IACOBI  I  GOTINGEN“ zeigt es zwei Personen, die eine stehend, die andere vor ihr kniend. Die stehende Person ist durch einen Heiligenschein ausgezeichnet und hält in der linken Hand, zum Betrachter gewandt, ein geschlossenes Buch, auf dessen Deckel eine Jakobsmuschel abgebildet ist. Unzweideutig handelt es sich um den heiligen Jakob. Die andere, kniende Person trägt eine Tasche, während ein breitkrempiger Hut ihr an langen Bändern auf dem Rücken hängt. Wir müssen also einen Jakobspilger annehmen, der vor dem Heiligen niederkniet. Dieser berührt nun aber mit der rechten Hand eine Krone, die er offenbar dem Pilger soeben aufgesetzt hat. Darstellungen der Krönung von Pilgern durch den heiligen Jacobus sind ein geläufiges Motiv, wenn diese zu zweit oder mehreren auftreten. Die Krönung einer einzelnen Person ist dagegen ungewöhnlich. Welchem Jakobspilger aber gebührt die Krone des heiligen Jacobus mehr, als demjenigen, der nicht nur die Fahrt nach Santiago unternommen, sondern nach seiner Rückkehr auch gerade diese Kirche, um dessen Siegel es hier geht, gegründet hat? Heinrich der Löwe als Göttinger Stadtgründer und als Jakobspilger von 1182 käme dafür mehr als irgend jemand sonst in Frage. Die Krone, die ihm das Reich verwehrt hatte, jetzt erhielte er sie dafür vom heiligen Jakob.

 

 

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