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Roland Salz                                                                      
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Langhaus und Turm von Süden

Jacobikirche Göttingen von Süden

Bild: © Roland Salz 2014

V. Chor und Langhaus von außen

 

Der Neubau der Kirche in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde im Osten mit dem Chor begonnen. Es folgte das Langhaus, dann der Westbau mit der Turmhalle und schließlich der Turm. Im Verlaufe dieses Baufortschritts, der sich über etwa 70 Jahre, also mehr als zwei Generationen, hinzog, hatte sich der gotische Stil weiterentwickelt, und da jeder Baumeister (und auch jeder Bauherr) mit seinen Werken immer auf der Höhe der Zeit sein wollte, finden sich stilistische Veränderungen auch entlang der Baugeschichte dieser Kirche von Ost nach West. Solchen Tendenzen zum Befolgen eines sich wandelnden Stils steht naturgemäß eine andere entgegen, nämlich diejenige zur Schaffung eines in sich konsistenten, stimmigen, vielleicht sogar ein- heitlichen Gesamtbauwerkes. Aus diesen gegenläufigen Bestrebungen entsteht für jeden Kirchenbau ein jeweils eigener Kompromiß, den der Kunstgeschichtler nach historischen, aber auch jeder andere Betrachter der Kirche etwa nach rein ästhetischen Gesichtspunkten bewerten kann.

          Neben den stilistischen gibt es für den Baumeister aber immer auch ganz elementare, handwerkliche Rahmenbedingungen. Eine davon stellen die Gegebenheiten des Bauplatzes dar. Sieht man sich die Sockel der Jacobikirche ganz genau an, die mit einem einfachen gotischen Sockelgesims, bestehend aus einer konvexen Zone unten, einer breiten Hohlkehle in der Mitte und einer darüberliegenden schmalen Wulst, geschmückt sind, so stellt man fest, daß sich ihre Höhe von Ost nach West deutlich vergrößert. Ganz offensichtlich fällt das Gelände hier leicht nach Westen ab, was angesichts der Talrand- lage der Stadt sofort nachvollziehbar wird.

          Die ganze Kirche ist zudem von einem einheitlichen Kaffgesims umfaßt, das unterhalb der Sohlbänke der Fenster verläuft und um die Strebepfeiler herum verkröpft ist. Lediglich an den Außenwänden der Sakristei, deren Fenster viel tiefer ansetzen, ist dieses Gesims, das hier schon auf der Höhe der Fenstermaßwerke verlaufen würde, unter- brochen. Die Strebepfeiler, die am Außenbau die Jochgrenzen des Innenraums markieren, springen sowohl am Chor als auch am Lang- haus nicht nur an diesem Kaffgesims, sondern darüber noch zwei weitere Male zurück und sind an diesen Stellen mit weiteren Wasser- schlägen versehen. Diese beiden oberen Rücksprünge liegen am Langhaus deutlich höher als am Chor. Während die Strebepfeiler des Chors knapp unterhalb der Dachtraufe mit einer pultdachartigen Schräge abschließen, setzen sich diejenigen des Langhauses in Fialen fort, die weit über die Traufe hinausragen. Der oberste Wasserschlag der Langhausstrebepfeiler ist zudem dreiseitig, die Strebepfeiler verjün- gen sich hier auf allen drei Seiten. Eine geschrumpfte Variante dieses Schemas zeigen die niedrigen Strebepfeiler der Sakristei, die sich oberhalb eines verkröpften Wasserschlags ebenfalls auf allen drei Seiten verjüngen und deren Pultdachabschluß nicht nur von etwas seit- lichem Überstand desselben, sondern auch von einem Dreiecks- zwerchgiebel mit Blendmaßwerk geschmückt ist.

          Sehr aufwendig – aber wegen der nahen Platzbebauung nur schwer zu betrachten – sind die Traufenbereiche des Langhauses auf der Nord- und Südseite gestaltet. Hier hat der unbekannte Baumeister in den vier östlichen der schmalen Joche jeweils Dreieckszwerchgiebel zwischen die Strebepfeiler gestellt, die je von einer hochrechteckigen, offenen Luke durchbrochen werden. Die Ortgänge sind krabbenbesetzt und die bekrönenden Fialen erreichen mit den Kreuzblumen dieselbe Höhe wie diejenigen auf den Strebepfeilern. Auf beiden Seiten der Kirche verschneiden sich die vier Zwerchdächer mit dem steilen, diese weit überragenden Satteldach des Langhauses.

          Zwischen den Zwerchdächern, an den Stellen, wo sich die Strebepfeiler befinden, muß das Regenwasser abgeleitet werden. Hier befinden sich, etwas unterhalb eines weiteren, die drei Seiten des Strebepfeilers umfassenden Wasserschlaggesimses auf der ursprüng- lichen Traufenhöhe, Wasserspeier in Form von furchteinflößenden Drachen. Über den Wasserschlägen sind die Strebepfeiler jeweils in drei Filialen aufgespaltet, zwei kleinere vorne und ein breiterer und höherer im Hintergrund. Der ganze Skulpturenschmuck und die Eck- steine der Kirche sind aus Buntsandstein gemeißelt, während die Wände selbst und auch noch die inneren Teile der Strebepfeiler, wie man an einer Stelle am nördlichen Langhaus sehen kann, an der die Putzschicht nicht deckt, aus dem bei Göttingen in reichlichem Maße anstehenden Muschelkalkstein in lagerhaftem Bruchsteinverband ge- mauert sind.

          Der durchfensterte Bereich in Chor und Langhaus erstreckt sich bei weitem nicht auf die gesamte Jochbreite. Auf der Nordseite des Langhauses sind die Fenster nur zweibahnig, ebenso wie im zweiten Chorjoch, an den Außenseiten des 5/8-Schlusses und an den Kopf- enden der Langhausseitenschiffe. Hier macht der durchfensterte Teil nur etwa ein Drittel der Wandfläche zwischen den Strebepfeilern aus aus. Die dreibahnigen Fenster im Chorscheitel sowie auf der Südseite des Langhauses brechen die Wandflächen zwischen den Strebepfeiler  zwar etwa zur Hälfte auf, aber die dichte Platzbebauung sowie große, nahe an der Kirche stehende Bäume erlauben auch hier keine wirkliche Lichtfülle für das Kircheninnere. Dazu kommt, daß die Wände des er- sten Chorjoches gänzlich fensterlos sind. Portale befinden sich auf beiden Seiten der Kirche jeweils im mittleren der fünf Langhausjoche (wobei das südliche aufwendiger gestaltet ist als dasjenige im Norden) sowie im zweiten Joch der Sakristei.

          Ein hervorragendes Meditationsobjekt stellen, wie an so vielen gotischen Kirchen, die Maßwerke dar. Der Versuch, auch nur ein einzelnes von ihnen in seinem formalen Aufbau exakt zu beschreiben, zwingt dazu, sich dieses wirklich genau und anhaltend anzusehen, so lange, bis man (fast) „eins“ mit ihm geworden ist. Durch ihren ver- gleichsweise einfachen Aufbau stellen die Maßwerke der zweibahni- gen Fenster den besten Ausgangspunkt für einen solchen Versuch dar. Auch diejenigen der dreibahnigen Chorfenster sind, wenn auch deutlich komplizierter, in ihrem Aufbau noch überschaubar. Wahrhaft meisterlich aber sind die Entwürfe der Maßwerke auf der Südseite des Langhauses. Hier offenbart sich ein erstaunlicher geometrischer For- menreichtum, der aber immer einer großen Gesamtidee, einer bei jedem Fenster verschiedenen (Dreieck, Viereck, Kreis, etc.), unter- geordnet bleibt. Am interessantesten sind natürlich die beiden Büsten bärtiger Männer, die, als wäre nichts natürlicher als das, aus dem Maßwerk auf der Südseite des westlichen Langhausjoches heraus- blicken. Während der linke eine zylindrische Mütze trägt, ist der rechte Kopf bekrönt.

 

 

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