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III. Der Jacobikirchhof
Einem Leuchtturm gleich ragt der Einturm der Göttinger Jacobikirche über 70 Meter in den Himmel, als höchster Kirchturm der Stadt, und weist den Jakobspilgern, die von Skandinavien kommend durch Deutschland in Richtung Süden ziehen, den Weg. Kurz vor Erreichen der Kirche, dieser schon so nahe, daß er den Turm nicht mehr sieht, fällt der ankommende Pilger geradezu über eine in den Boden eingelassene Bronzeplatte, aus der sich eine große Jakobsmuschel reliefartig erhebt. Die Muschel zeigt auf den Eingang der Kirche, der sich, tief in einer weiten Vorhalle gelegen, dunkel abzeichnet. Vom Sturz benommen und sich fragend, ob dieser Eindruck vielleicht von Verletzungen des Kopfes herrührt, wundert sich der fremde Wanderer über die zahlreichen Archivolten des Portals, die mit geometrischen Mustern in den Farben Rot, Grau und Weiß bemalt sind und einen geradezu flimmernden Effekt erzeugen. Nun will es der Neuankömmling wirklich wissen, was sich hinter dieser Tür wohl verbergen mag. Er schleppt sich mühsam heran und gewahrt oben, an der Stelle, wo sich sonst ein Türgriff zu befinden pflegt, einen bronzenen Falken, der über ihn hinweg starr in die Ferne schaut. Mit letzter Kraft öffnet er das Kirchenportal, und schon wieder kommt ihm ein Falke entgegen, diesmal den inneren Türöffner vertretend. „Ein Gruselkabinett“, fährt es dem armen Pilger durch den Sinn, aber dann ermannt er sich, steht auf – und gewahrt einen ganz wundersamen Raum.
Wer sich den heutigen Jacobikirchhof ansieht, einen längsrecht- eckigen Platz zwischen der Weender Straße im Westen und der Jü- denstraße im Osten, welcher seine heutige Gestalt im Zuge der Umwandlung der Weender Straße in eine Fußgängerzone in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erfuhr, dem wird es kaum vorstellbar sein, daß eben dieser Kirchhof sich noch bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts als ein von einer Mauer umgebener Friedhof inmitten der engen, ummauerten Altstadt darstellte. Genauso hatte dieser Kirchhof schon ausgesehen, als im 13. Jahrhundert Pfalzgraf Heinrich bei Rhein, der Sohn Heinrichs des Löwen, und Herzog Otto das Kind von Braun- schweig und Lüneburg, der Neffe des Pfalzgrafen, hier, in der Nähe des Burgbezirks, ihre Rechtsgeschäfte mit den Repräsentanten der entste- henden Stadt beurkundeten, oder als Herzog Albrecht der Große von Braunschweig-Lüneburg oder sein Sohn Albrecht der Feiste ihnen hier die städtischen Rechte zu bestätigen pflegten. Erst 1387 fand diese Praxis ein jähes Ende, als die Bürger der Stadt die in ihren Mauern gelegene herrschaftliche Burg, von der aus ihnen Herzog Otto III. der Quade das Leben schwer gemacht hatte, einfach zerstörten und sich des Herzogs auf diese Weise entledigten.
In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Jacobikirch- hof mit einer roten Pflasterung versehen, die aus im Fischgrätenver- band verlegten Backsteinen besteht. Struktur kommt in diese Fläche durch ein diagonal gestelltes, kariertes Raster aus Kopfsteinen, wie sie früher im Straßenbau Verwendung gefunden hatten und nun in großen Mengen anfielen. Auch die Fußgängerzone der Weender Straße hat man mit rechtwinkligen Mustern gepflastert, aber auf grauem Grundton und ohne Diagonalstellung. Diese Pflasterung ist aber vor der Jacobikirche unterbrochen, weil sich hier die rote des Jacobikirchhofs bis an die westliche Häuserzeile der Weender Straße erstreckt. Der Platz beginnt also nicht jenseits der Hauptstraße, sondern er bezieht diese mit ein, als weiteres sinnfälliges Signal, innezuhalten und sich dem Kirchenbau zuzuwenden. Auf der Ostseite fließt durch die Jüdenstraße auch heute noch Verkehr, wenn auch nur noch in eine Richtung.
Die Bebauung des Platzes an seinen vier Seiten umfaßt Gebäude aus den letzten fast 500 Jahren. Es überwiegen, wie in der gesamten Göttinger Altstadt, Fachwerkhäuser, die in einigen Fällen verputzt sind. Das älteste Gebäude steht an der Jüdenstraße, Ecke Speckstraße, gegenüber dem Chor der Kirche, und läßt sich dendro- chronologisch auf die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts datieren. Es zeigt noch den gotischen Fachwerkstil. Auf einem Foto aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist noch ein großes Wappen über dem Eingangsportal zu erkennen, auf einem offenbar für diesen Zweck vor- gesehenen, besonders großen und quadratischen Gefacht. Auch die bemalten Füllbretter unter dem auf der Vorderseite des Gebäudes vorkragenden Gebälk, über dem sich das zweite Obergeschoß hier ebenfalls vorkragend erhebt, waren zu dieser Zeit noch vorhanden. Heute sind die damals noch sichtbaren, einfach verglasten Fenster gegen moderne, aber auch mit viel breiteren Rahmen versehene ausgetauscht, wodurch sich eine ganz andere Gesamterscheinung des Hauses ergibt. Auch die damals noch schräggestellen, einzelnen Füllbretter unter dem Dachansatz sind zugunsten einer modernen, inte- grierten Dachlösung verschwunden. Ihr fiel auch die zierliche Schlepp- gaube mit den beiden kleinen, quadratischen und jeweils nochmal vier- geteilten Fenstern zum Opfer.
Das markanteste Gebäude am Jacobikirchhof ist aber das alte Pfarrhaus. Auf einem massiven Sockel aus Sandsteinquadern erhebt sich der Fachwerkbau aus der Renaissance an der Nordostecke des Platzes, zeigt mit seinem mächtigen, dreistöckigen Giebel zur Jüdenstraße und mit Traufe und Haupteingang zum Chor der Kirche. Auch dieses Gebäude, fertiggestellt, wie eine Datierung über einem der Fenster besagt, im Jahr 1603, wurde seit den 70er Jahren aufwendig restauriert, wobei man jedoch wesentlich einfühlsamer vorgegangen ist. Bei der Dachsanierung wurde die kleine Schleppgaube in ursprüng- licher Größe belassen, und auch die Ladeluken auf den drei Etagen des straßenseitigen Giebels blieben erhalten. Auf der Schauseite zur Kirche kragt das Obergeschoß gegenüber dem Erdgeschoß vor, im Bereich der rechten vier Gefache aber deutlich stärker, so daß hier ein erker- artiger Eindruck entsteht. Dies schafft ein Gegengewicht zum Haupt- portal, das, über einen Steinsockel mit zweiarmiger, gegenläufiger Treppe erreichbar, weit nach links verschoben ist und dessen Rahmen, mit der geschwungenen Barocktür vom Ende des 18. Jahrhunderts und schönen, ebenfalls geschwungenen Oberlichtfenstern, deutlich schief steht. Die weitere Vorkragung auf der rechten Fassadenseite ist auch um die Ecke des Hauses herumgeführt und auf der Straßenseite übernommen. Hier kragt dann der Giebel, von der Traufenhöhe an, noch einmal weiter vor. Die Vorkragung des Obergeschosses ist auf Konsolen abgestützt, die die Form von Voluten haben. Zwischen ihnen sind Zierhölzer mit Zahnschnitt- und Eierstabmotiven angebracht. Auch die Vorderseiten der Fachwerkbalken selbst sind im Erkerbereich sparsam mit klassischen Motiven versehen. Eine gelungene Verände- rung gegenüber dem Zustand in den 70er Jahren stellt die jetzt vollständige Durchfensterung aller vier rechten Gefache im Ober- geschoß der Fassadenseite dar. Der erkerartige und damit herausge- hobene Eindruck dieses Bereichs der weiteren Vorkragung kommt dadurch noch besser zur Geltung. Alle Fenster am Gebäude sind in historischer Weise als doppelte Fenster ausgestaltet, deren äußere jeweils nach außen öffnen. Im Bereich des Erkers wurden zudem kleinteiligere Sprossenfenster verwendet, was diesen Bereich in unaufdringlicher Weise noch weiter betont.
Leider ist die Bebauung auf der Südseite des Platzes heute sehr weit an die Kirche herangerückt, so daß deren Betrachtung hier stark eingeschränkt ist. Das ist um so bedauerlicher, als die Südseite eigentlich die Hauptschauseite der Kirche war, die Ausschmückung ist hier reicher als auf der Nordseite. Vor allem handelt es sich bei der Bebauung dieser Platzseite um erweiternde Rückgebäude von Häusern aus umliegenden Straßenzügen, die sich nach Aufgabe des alten Friedhofes hierher ausbreiteten. Am auffälligsten von Ihnen ist ein riesiger, im frühen 19. Jahrhundert entstandener, verputzter und mit großflächigen klassizistischen Motiven ausgestalteter Fachwerkbau, der einst einen Festsaal beherbergte und zu einer renommierten Gaststätte in der Weender Straße gehörte. Aufwendige Festmähler der Universität Göttingen konnten hier ihren würdigen Rahmen finden.
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