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Roland Salz                                                                      
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Flügelaltar Festtagsseite

Jacobikirche Göttingen Flügelaltar Festtagsseite

Bild: License

XIII. Die Festtagsseite und das Blut des Neuen Bundes

 

Während die Außenseite des Altarretabels lediglich in düsterem Rot gemalt ist, die erste Wandlung aber in leuchtenden Farben und über weite Strecken auf Goldgrund, erstrahlt die zweite Wandlung vollstän- dig vergoldet, als geöffneter Schrein gefüllt mit vollplastischen Skulp- turen. Diese stufenweise Aufwertung der eingesetzten formalen Mittel – Farbigkeit, Leuchtkraft und Plastizität – für die drei Ansichten korres- pondiert natürlich mit einer immer größeren Bedeutung des auf ihnen dargestellten Geschehens. Wandlung für Wandlung wird der Betrach- ter auf eine immer höhere Ebene dargestellter christlicher Wirklichkeit geführt, so wie man sie sich im späten Mittelalter vorstellte. Es hätte zur Zeit der Entstehung des Flügelaltars sicherlich weniger Erklärung be- durft als heute, um zu verstehen, was ganz in seinem Innern dargestellt ist: das Himmlische Jerusalem, die Himmelsstadt, der Himmelsstaat, in dem der auferstandene und zum Himmel gefahrene Christus zusam- men mit seiner Mutter regiert. Die fast gleichwertige Bedeutung in die- ser Szenerie von Christus und Maria – beide sind bekrönt und sitzen gemeinsam in der Mitte auf einer Bank zwischen den stehenden Heili- gen – ist uns heute vielleicht am wenigsten verständlich. Sie hat sich aus einer langen Tradition von Marienfrömmigkeit entwickelt, wie sie im späten Mittelalter entstanden war und nach der Maria nicht nur als Mutter, sondern im Himmel zugleich als Braut Christi angesprochen wird. Legitimiert wurden solche Vorstellungen durch eine mariologi- sche Deutung des alttestamentarischen Hohelieds. In dem traditionel- len Szenentypus der Marienkrönung setzt Christus als Weltenherr- scher der Maria gerade die Krone auf, während beide auf ihrer himm- lischen Bank nebeneinandersitzen; hier jedoch ist dies offenbar schon geschehen. Tatsächlich ist die Marienfrömmigkeit ja auch heute noch weit verbreitet, man denke an all die Marienstatuen, die sich in den katholischen Kirchen oft des allergrößten Zuspruchs erfreuen, nicht selten weit mehr als der christliche Heiland selbst.

          Auch die Ausschmückung des Dargestellten erreicht im Innern des Retabels einen Höhepunkt: gemalte, komplex strukturierte Säulen  waren in der ersten Wandlung hinzugetreten, nun aber sind nicht nur diese Säulen, die hier die einzelnen Heiligenpaare voneinander abgren- zen, vollplastisch, sondern über den Figuren erhebt sich ein ganzes Netzwerk filigraner Schnitzarchitektur, bestehend aus Baldachinen mit Wimpergen, winzigen Krabben und Kreuzblumen, mit phantasievollem spätgotischem Maßwerk, mit durchfensterten und von Blendmaßwerk überzogenen Erkern. Die Verzierung, das Ornament galt im Mittelalter nicht nur als ein notwendiges Beiwerk, sondern als eine eigene Kunst, und sie erreichte, wie man an diesem Beispiel sehen kann, eine Ausformung, die in Qualität, schöpferischer Phantasie und Zeitaufwand der Arbeit an den Skulpturen selbst gleichkam.

          Die Skulpturen sind, wie erst auf den zweiten Blick deutlich wird, zwischen dem ganzen Blattgold sparsam farbig gefaßt. Die Gesichter erscheinen in ihrem Inkarnat über den vergoldeten Gewändern gesund und voller Freude, von dem Martyrium, das die Heiligen in ihrem Erden- dasein erlitten haben, ist keine Spur geblieben. Hier und dort leuchtet eine rote Mitra auf, sticht ein weißes Kopftuch oder ein schwarzer Schal hervor.

          Die Heiligen stehen links und rechts des zentral sitzenden Paa- res in streng hierarchischer Reihenfolge, wobei die wichtigsten von ihnen die nächstgelegenen Plätze von der Mitte aus einnehmen. Da fin- det sich Jakobus der Ältere, der Schutzpatron der Kirche, rechts (von ihr aus gesehen) neben Maria, gefolgt von seinem Bruder Johannes dem Evangelisten. Die Bitte ihrer Mutter in der ersten Szene der Werktagsseite hat sich, wie man jetzt sehen kann, erfüllt. Zur Linken Christi führen Jakobus der Jüngere und Petrus die Reihe an. Die bei- den Jakobi sind allerdings in Bezug auf ihre Inschriften vertauscht, standen also ursprünglich offenbar andersherum.

          Der Sockelfries mit den von Ranken umgebenen Propheten des Alten Testaments und dem Christus als Schmerzensmann in der Mitte ist ikonographisch nicht so leicht zu verstehen. Die Darstellung ist, zumindest bei näherer Betrachtung, ungewöhnlich. Bei baumartigen Verästelungen, die Christus mit Gestalten aus dem Alten Testament verbinden, ist man geneigt, zuerst an das Motiv der sog. Wurzel Jesse zu denken. Sie stellt für gewöhnlich eine Art von Stammbaum dar, mit dem die Abstammung Jesuʼ aus dem Geschlecht König Davids belegt werden soll. Urahn dieses Geschlechts ist Jesse, der Vater Davids. Der Baum wächst meist aus der Gestalt Jesses (unten dargestellt) heraus und zeigt in seinen höchsten Verästelungen Christus als Welten- herrscher. Sieht man sich den Sockelfries der Festtagsseite aber genau an, so gehen die Ranken, deren Blattwerk sie als Wein identifizieren, umgekehrt von Christus aus. Sie wachsen ihm aus den Schultern heraus wie ein Flügelpaar, strecken sich nach beiden Seiten und umrunden die links und rechts als halbfigurige Reliefs aufgereihten Propheten. Was aber soll diese Darstellung bedeuten? Denkt man an die Feier der Eucharistie, die am Altar und damit auch hier, unmittelbar vor dem Jacobiretabel, regelmäßig stattgefunden hat, so kann der Wein nur das Blut Christi versinnbildlichen, in der Weise, wie dieser es selbst in der Abendmahlsszene formuliert hat: „Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet und reichte ihn den Jüngern mit den Worten: Trinkt alle daraus; das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Math 26,27-28). Die Propheten haben bekanntlich schon im Alten Testament die Ankunft des Messias geweissagt, und dies ist für die Christen das Band, das auch dieses eigentlich jüdische Buch zu ihrer heiligen Schrift werden läßt. Wenn die Weinranken, von Christus ausgehend, die Propheten umrunden, dann bewegen sie sich, dann wachsen sie in der Zeit eigentlich rückwärts, genau einem Stammbaum entgegengesetzt. Nicht die Propheten waren zuerst da und haben Christi Ankunft geweissagt, sondern Christus war zuerst da und hat die Propheten sich selbst, seine irdische Ankunft weissagen lassen! Christus, der auferstandene Schmerzensmann, so suggeriert diese Darstellung, ist also geradezu überzeitlich. Die christologische Teleologie läuft hier nicht auf ihn hin, sondern sie geht von ihm aus. Der auferstandene Christus, der Schmerzensmann, aber zugleich Weltenherrscher, ist nicht nur der Endpunkt einer Entwicklung, er ist zugleich ihr Ausgangspunkt!

          Dem Christen des Mittelalters war die Passion Christi nicht etwas längst Vergangenes, sondern etwas immer noch Gegenwärtiges, etwas Reales, sein Leben unmittelbar Bestimmendes. Das bringen die Szenen des Christuszyklusʼ zum Ausdruck, wenn sie in Innenräumen spielen, die dem Betrachter als seiner Zeit gemäß vertraut waren. Aber auch die Krönung Mariens im Himmel, in dieser dem Betrachter entrückten Umgebung lokalisiert, ist nicht nur als etwas Vergangenes anzusehen, sondern als eine immerwährende Gegenwart, für den Be- trachter zugleich der Zielpunkt, auf den hin er seine Zukunft auszurich- ten sucht. Das Welt- und Geschichtsverständnis des mittelalterlichen Christen orientiert sich an den von der Bibel vorgegebenen Epochen, Abläufen und Wendepunkten, von den alttestamentarischen Weissa- gungen über die tatsächliche Ankunft Christi auf Erden, seinen Tod und seine Auferstehung, die Entstehung der Kirche, ihr Wirken auf Erden in der Nachfolge Christi, das angekündigte Jüngste Gericht bis hin zum ewigen Leben im Himmel. Dieses ganze christliche Universum bringt das Retabel zur Anschauung. Dreh- und Angelpunkt darin ist die Figur Christi. Von der Auferstehungsszene der ersten Wandlung leitet der Schmerzensmann im Sockelfries der zweiten Wandlung über zum Weltenherrscher in der Himmelsstadt. Aber Christus war auch schon vorne, auf der Außenseite gegenwärtig, in der ersten Szene überhaupt, in der die Mutter von Jakobus und Johannes ihm seine beiden Söhne empfiehlt. Christus ist die Klammer, die alle drei Ansichten des Reta- bels zusammenfaßt.

          Die Kreuzigungsszene der Passion Christi enthält ein bemerk- enswertes und höchst originelles Detail. In den Fliesenboden, auf dem der Kreuzbalken steht, ist eine steinerne Rinne eingekehlt, in der das Blut Christi als kleines Rinnsal aus dem Bildraum heraus nach vorn fließt und dann an dieser Stelle regelrecht vom Retabel herunter auf den Altar zu tropfen scheint. Tatsächlich bluten die Wunden an den Händen und an der Brust stark, wie man bei genauerem Hinsehen er- kennt, das Blut rinnt an der Unterseite der nackten Arme und am schmächtigen Körper herab. Läßt man die ganze aufgeklappte Bild- fläche der Sonntagsseite noch einmal auf sich wirken, so fällt immer mehr die Dominanz der roten Farbe ins Auge. Nicht nur die vielen leuchtend roten Gewänder, Bettdecken, Fahnen, etc., die karminrote Kassettendecke über allen Kompartimenten, sondern auch rote Schat- ten um die Pfeilersockel herum verweisen auf das Blut Christi, das sich in seinem Gesicht und am Körper schon in den drei der Kreuzigung vorangehenden Szenen deutlich abzeichnet. Und jetzt wird nicht nur die Bedeutung auch der weinroten Rahmung dieser Retabelansicht ver- ständlich, sondern sogar die merkwürdige Rot-in-Rot-Malerei der Au- ßenseite. Diese ganze Heiligengeschichte des Jakobus ist mit dem Blut Christi geschrieben! Sehen wir uns nochmal ihre allererste Szene an: die Mutter, kniend, deutet mit der Hand auf Christus, neben ihr ste- hend, genauso wie Jakobus. Christus deutet mit seiner rechten Hand ebenfalls auf sich selbst. Alle drei Hände deuten auf Christus: er ist derjenige, von dem dieser ganze Zyklus ausgeht, auf dem er beruht. In seiner Nachfolge, in seiner Nachahmung steht die Passion des Jako- bus, ja, Christus hat diese Geschichte selbst verfaßt. Denn mit der anderen Hand hält er einen Stift, der ansonsten als Requisit für diesen Szenentypus völlig unüblich ist und völlig unverständlich wäre.

          Das Blut Christi, das Blut des Neuen Bundes ist es, was das ganze Retabel mit seinen drei Ansichten durchtränkt. Es tropft aus der Holztafel heraus – geradewegs in den auf dem Altar stehenden Abend- mahlskelch! Ist eine noch intensivere bildliche Vergegenwärtigung des- sen, was in der christlichen Eucharistiefeier passiert, überhaupt mög- lich?

          Die Farbe des Blutes ist es aber auch, die sich vom Retabel ausgehend durch die ganze Ausmalung der Kirche zieht, ja, die in ab- getönter Weise sogar noch hinausstrahlt in die Farbfassung der verputzten Außenfassade, den Buntsandstein des Turms und die Pfla- sterung des Jacobikirchhofs.

 

 

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