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St. Jakobikirche Göttingen

St. Jacobikirche Göttingen

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I. Heerstraße und Kaiserpfalz

 

Durch das Leinetal verlief seit alters eine bedeutende, von Norden nach Süden führende Heerstraße. Das breite, in der Mitte oft sumpfige Tal wird im Osten von den ausgedehnten Höhenzügen des Harzes flankiert, im Westen von denjenigen des schon zum Weserbergland gehörenden Sollings, und es bildet somit einen wichtigen Verkehrspaß. Das heutige südliche Niedersachsen war zudem seit jeher Grenzgebiet zwischen den Einflußbereichen der mächtigen Sachsen im Nord, der Franken bzw. später der Hessen im Süden und der Thüringer im Osten.

          Spätestens seit dem frühen 10. Jahrhundert ist eine Burganlage auf dem Hagenberg bei Göttingen bezeugt, der hier eine markante, aus den Talauen der Leine hervortretende Erhebung bildet. Diese Burg, Grona nach dem benachbarten alten Dorf Grone genannt, scheint von den Liudolfingern, dem damaligen sächsischen Herzogsgeschlecht, zur Verteidigung des sächsischen Machtbereichs errichtet worden zu, denn aus überlieferten Quellen geht hervor, daß bereits im Jahre 915 der fränkische König Konrad I. hier den Sachsenherzog Heinrich vergeblich belagerte. Nachdem der Sachsenherzog 919 als Heinrich I. deutscher König geworden war, übertrug er die Burg Grona seiner Frau Mathilde, die hier häufig ihren Wohnsitz nahm. Nach ihrem Tod sollte Grona dann zu einer der wichtigsten Pfalzen der sächsischen Könige werden, auf ihr wurden Hoftage und Synoden abgehalten, Erzbischöfe bestimmt und unzählige königliche und kaiserliche Urkunden ausgestellt. Erst mit dem Tod Kaiser Heinrichs II., der 1024 auf der Pfalz Grona starb, endete deren Glanzzeit, denn nun sollten die deutschen Könige und Kaiser für die nächsten hundert Jahre aus dem Geschlecht der Salier hervorgehen, die ihr Stammland im Gebiet von Speyer und Worms hatten. Noch einmal, von 1125 bis 1137, wurde mit Lothar von Supp- linburg ein Sachsenherzog deutscher König, dann fiel die Königswürde an die Staufer.

          Die Entstehung der Stadt Göttingen – und damit auch ihrer Kirche St. Jacobi – ist nicht zu verstehen ohne Berücksichtigung des jahrzehntelangen Antagonismusʼ zwischen den sächsischen Welfen und den schwäbischen Staufern. Dieser Dauerkonflikt um Macht und Vorherrschaft überschattete die Regierungszeiten der beiden ersten staufischen Könige, Konrad III. und Friedrich I. Barbarossa. Heinrich der Stolze, der Schwiegersohn Lothars und mächtigste Herzog im Land, war von diesem bereits als Nachfolger auf dem Königsthron designiert worden, als auf Betreiben des Erzbischofs von Trier eine Reichsversammlung in Koblenz den Staufer Konrad wählte. Um seinen mächtigen Widersacher zu schwächen, erkannte Konrad ihm schließlich seine beiden Herzogtümer Sachsen und Bayern ab. Heinrich konnte aber die Macht in Sachsen de facto behalten und für seinen Sohn Heinrich den Löwen sichern, der von Konrad 1142 auch als Herzog von Sachsen anerkannt wurde. Erst 1156, unter Friedrich I. Barbarossa, erhielt Heinrich der Löwe für die Welfen auch das Herzog- tum Bayern zurück.

          Bekanntlich waren die Mächte im europäischen Mittelalter (ob sie nun groß waren wie der König, ein Herzog oder ein Erzbischof, oder klein wie ein Landadeliger ein unbedeutendes Stift oder eine verarmte Stadt) noch nicht als geschlossene geographische Territorien organi- siert wie später in der Neuzeit. Die vielfach hierarchisch gestaffelten Lehnsbeziehungen und noch dazu die Konkurrenz von weltlichen und kirchlichen Mächten brachten es mit sich, daß im Zuge von Eroberun- gen, Schenkungen, Verkäufen, Tauschgeschäften, Verpfändungen und der Erbfolge sich Besitzungen und Machtansprüche zersplitterten und oft über das ganze Land verstreuten. Diese Zersplitterung setzte sich bis in die kleinsten regionalen Einheiten, bis hinunter in die dörfliche Ebene fort. Von einer Besitzung zur nächsten galt, trotz unmittelbarer räumlicher Nähe, oft verschiedenes Recht. So war es, um ein drasti- sches Beispiel zu wählen, etwa bei einem Mord von entscheidender Bedeutung, ob er noch innerhalb oder schon außerhalb des Kirchhof- tores stattgefunden hatte, denn davon hing nicht nur ab, im Macht- bereich welches Herrn er stattgefunden hatte, sondern auch, welches Gericht und welche Rechtsprechung für den Straftäter zuständig war.

          In dieser Weise wurde auch der Göttinger Raum im hohen Mittelalter durch eine Vielzahl von weltlichen und kirchlichen Mächten bestimmt, die hier Besitzungen hatten und um lokalen und regionalen Einfluß konkurrierten. An erster Stelle stand dabei natürlich das Königsgut der Pfalz Grona. Zu ihr gehörten neben einer Kapelle und einer Ansammlung von Burgmannenhöfen große Teile der Dörfer Altengrone und Burggrone in ihrer unmittelbaren Nähe sowie ein Verband aus diversen Wirtschaftshöfen in der weiteren Umgebung, die für die Unterhaltung des königlichen Hofes bei dessen Verweilen am Pfalzort notwendig waren. Auch in dem kleinen Dorf Gutingi, dem späteren Göttingen, überwog der königliche Besitz. 953 schenkte Kaiser Otto I. ihn dem Moritzkloster in Magdeburg, und dieser schriftlich festgehaltenen Übertragung verdanken wir heute die älteste urkund- liche Erwähnung des Namens der späteren Stadt.

          Mit dem Übergang der Königswürde an die Staufer im Jahre 1138 war dieser reiche königliche Besitz in der Göttinger Gegend, der einstmals – immerhin am Rande des Kernlands der Sachsenherzöge gelegen – von den Liudolfingern planmäßig erworben und ausgebaut worden war, an die fernen schwäbischen Herzöge verloren. Diese hätten die Pfalz, die auch danach weiterbestand, zur Keimzelle für eine Stadtgründung machen können, wie an vielen anderen Orten des Reiches geschehen. Daß dies nicht passierte, die Stadt sich statt dessen weiter oben, am Talrand, unterhalb des Hainbergs bildete, an dem Flecken, wo jenes bedeutungslose Dorf Gutingi lag, ist den planmäßigen Machtbestrebungen Heinrichs des Löwen zu verdanken.

 

 

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