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IX. Der Fensterzyklus von Johannes Schreiter
Die relative Dunkelheit – trotz der hellen Ausmalung – im Innenraum von St. Jacobi rührt nicht zuletzt daher, daß sämtliche Fenster mit farbigen Glasmalereien ausgefüllt sind. Im Gegensatz zu den evange- lisch-reformierten Gemeinden, bei denen die Kirchenräume in der Re- gel frei von Bildwerk sind und die Fenster klar, sind bei den evange- lisch-lutherischen – denn der Reformator Martin Luther war kein Bilder- stürmer wie Calvin oder Zwingli in der Schweiz – Bilder erlaubt. Die Kirche der lutherischen St. Jacobigemeinde zu Göttingen verfügt dabei nicht nur über farbige Glasfenster aus dem beginnenden 20. Jahrhun- dert, sondern auch über zwei bemerkenswerte Kunstschätze wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: einen gotischen Doppelflügelaltar aus dem späten 14. Jahrhundert im Chor und einen abstrakten Kirchen- fensterzyklus des späten 20. Jahrhunderts im nördlichen Seitenschiff.
Die Fenster im Chor und im südlichen Seitenschiff sind noch ganz dem Stilempfinden des Historismus verpflichtet. In neogotischer Manier werden die dargestellten Szenen auf das Üppigste von aufge- malten architektonischen Schmuckelementen umrahmt, von überbor- dend dekorierten Figurennischen, Erkern und Baldachinen, von Säulen- arkaden, Dreiecksgiebeln und Maßwerkfenstern. Was als Steigerung der gotischen Stilistik in dem sowieso schon gotischen Kirchenschiff mit dem sowieso schon gotischen Fenstermaßwerk gemeint war, erzeugt heute durch die Überfülle leicht Überdruß. Trotzdem lohnt ein Blick auf die Motive. Der Chor zeigt von links nach rechts Szenen aus dem Leben Christi: der zwölfjährige Jesus im Tempel, Christus am Kreuz, die Emmausjünger begegnen dem auferstandenen Christus, den sie zuerst nicht erkennen. Interessant ist die Darstellung eines Fensters im südlichen Seitenschiff, die von der „Einführung der Reformation i. Göttingen, Palmarum 1530“ handelt. Sie zeigt, in einer großflächigen, sich auf alle drei Fensterbahnen erstreckenden Szene, einen Pfarrer, der, von der Kanzel herab, vor einer großen Menge von Gläubigen die neue Göttinger Kirchenordnung verliest, am 10. April 1530, dem Palmsonntag. Erkennbar sind auf diesem Bild die Holzemporen über dem Seitenschiff, zwischen achteckigen Langhauspfeilern, wie sie nach der Reformation in vielen Kirchen eingebaut wurden, damit mehr Menschen den Predigten lauschen konnten, und wie sie zur Zeit der Entstehung dieser Glasmalerei auch in der Jacobikirche noch vorhan- den waren.
Für das nördliche Seitenschiff hat der renommierte Glasbildkünst- ler und ehemalige Rektor der Städelschule Frankfurt, Prof. Johannes Schreiter, einen Zyklus aus fünf Bildern geschaffen, der im Jahre 1998 fertiggestellt wurde. Schreiter, der zuerst mit neuartigen Collagetech- niken bekannt wurde, aber auch im Bereich der Glasmalerei formale und technische Weiterentwicklung betrieb, hatte in den 80er Jahren mit seinem Entwurf eines Fensterzyklusʼ für die Heiliggeistkirche in Heidel- berg Aufsehen erregt. Obwohl ihn die evangelische Kirchenleitung dazu eingeladen und ihn bei dem Entwurf tatkräftig unterstützt hatte, obwohl sich sowohl Theologen als auch Kunstgeschichtler der Universität über seine Qualität einig waren, wurde dieser Entwurf nicht realisiert. Nach monatelanger polemischer Auseinandersetzung in Heidelberg, heute bekannt als der „Heidelberger Fensterstreit“ (Andreas Mertin), lehnte ihn eine Mehrheit des Kirchengemeinderates als zu modern ab. Was zuerst noch wie eine vielleicht nur vorübergehende Niederlage aussah, entpuppte sich später als endgültig. Mittlerweile sind die Fenster von anderen Künstlern und auf weniger moderne Weise neu gestaltet worden.
Worin lag die Modernität von Schreiters Heidelberger Entwürfen? Ihnen lag ein Programm des Künstlers zugrunde, Dokumente in Zeichensprachen aufzuzeigen, die einen Querschnitt durch 2000 Jahre Menschheits- und Religionsgeschichte bilden. Seine Fenster waren Collagen, die sowohl Texte in den verschiedensten Sprachen, als auch Aufzeichnungen in anderen Notationen (Noten in der Musik, Formeln in die Physik, Modelle molekularer Verbindungen in der Biologie, Elektro- kardiogramme in der Medizin, einen Börsenkurszettel, ja sogar Ver- kehrszeichen) als Material benutzten. Gegenständliche Darstellungen, die über die Wiedergabe von Piktogrammen hinausgingen, enthielten diese Entwürfe praktisch nicht. Es ist mehr als schade, daß dieser wohl- durchdachte, einen ausgesprochen großen Bewußtseinshorizont ab- bildende Plan, der provokativ im besten Sinne der Kunst war, der dieser bedeutenden Kirche, die einstmals mit der Biblioteca Palatina eine der berühmtesten Bibliotheken der alten Welt beherbergt hatte, gerecht geworden wäre, nun nicht den Ort gefunden hat, an dem er hätte wirken können.
Um so höher ist es der Jacobigemeinde in Göttingen anzurech- nen, daß sie, ein gutes Jahrzehnt später, das Experiment mit Johannes Schreiter gewagt hat und von ihm einen ganzen Fensterzykus realisieren ließ. Natürlich hatte sich Schreiters Stil weiterentwickelt in der Zwischenzeit, hier war also nicht dasselbe zu erwarten, wie in den 80er Jahren in Heidelberg.
Schreiter nahm für den Göttinger Entwurf den 22. Psalm zur Grundlage, „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Diesem Psalm, der am Anfang die Form eines Klagegebetes hat, kommt im Christentum große Bedeutung zu, denn nach dem Evange- lium des Matthäus rief Christus am Kreuz den Eingangsvers zweimal laut aus, bevor er starb. Der Psalm ist dreigeteilt. Nach etwa zwanzig Versen der Klage, die in ihrer Verzweiflung ständig anwächst, ge- schieht völlig unvermittelt das, womit der Klagende schon nicht mehr gerechnet hat: „Herr, du hast mich erhört!“ Zu diesem Wunder gibt es keinen Kommentar, keine Erklärung, keinen Zusatz, dieser Satz steht ganz allein. Was folgt, ist ein Lobpreis Gottes, ein Loblied, noch einmal zehn Verse lang.
Schreiter hat den Verlauf des Psalms auf die fünf Fenster des nördlichen Seitenschiffs im Langhaus von St. Jacobi verteilt, in der normalen Leserichtung von links nach rechts. Dies ist ersichtlich aus den fünf Titeln, die die Fenster erhalten, allesamt Zitate aus dem Psalm: „Mein Gott, des Tages rufe ich, doch du antwortest nicht, und des Nachts, doch ich finde keine Ruhe.“ Dann: „Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, meine Zunge klebt mir am Gaumen, du legst mich in des Todes Staub.“ Im mittleren Fenster erfolgt das Wunder: „Herr, du hast mich erhört!“ Das vierte Fenster: „Ich will dich preisen in der großen Gemeinde.“ Und zuletzt: „Ihn allein werden anbeten alle, die in der Erde schlafen.“
Es ist ein Charakteristikum der protestantischen Kirche, daß sie dem Wort mehr Gewicht beilegt als dem Bild. Die Vermittlung von Glaubensinhalten geschieht durch Sprache, nicht durch bildhafte Darstellung. Manche evangelische Theologen sehen daher erst in der abstrakten, nicht mehr abbildenden Kunst das für den Protestantismus adäquate künstlerische Ausdrucksmittel. Tatsächlich finden sich auch bei Schreiters Göttinger Fenstern keine bildlichen Darstellungen. Schreiter setzt, genau wie in Heidelberg, auf Sprache, genauer gesagt: auf Zeichensprache, also Schrift. Aber diesmal bedient er sich nicht der Geschichte, der historisch überkommenen, der Menschheit bekannten Sprachen, sondern er erfindet eine neue, seine eigene. Er erfindet die Zeichen-, Formen- und Farbensprache der Fenster der Göttinger Jacobikirche.
Der Betrachter kann versuchen, sie zu entziffern. Eine bemerkenswerte Interpretation hat der Heidelberger Theologe Gerd Theißen in einem Vortrag dargelegt, den er am 12.9.1999 in der Göttinger Jacobikirche hielt. Theißen zufolge kann man die Fenster sogar auf mehrfache Weise lesen. Je nachdem, welchen Ausgangs- punkt man wählt, erhält man verschiedene Geschichten. Unterschied- liche Ebenen für das Verständnis der Fenster ergeben sich schon aus der doppelten Referenz des ihnen zugrunde gelegten Psalms in der Bibel: einmal erscheint er als Teil des Alten Testaments, in Bezug gesetzt zu einem beliebigen Gläubigen, zum Gläubigen allgemein; dann als Teil des Neuen Testaments, mit Bezug auf die Person Jesu Christi am Kreuz.
Der 22. Psalm gehört sowohl der jüdischen als auch der christliche Religion an, und er scheint über beide hinauszuweisen. Vielleicht ist er von allgemeiner Wahrheit. Jedenfalls könnte sich zum Beispiel der Zen-Buddhist vermutlich ebenfalls mit ihm identifizieren. Wird nicht das, was der Erleuchtungserfahrung vorausgeht, genau so beschrieben: als größte Verzweiflung des Suchenden, als Ausweglo- sigkeit, als ein „Sterben“, das der Entstehung des Neuen vorausgeht?
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