I. Modernste Bibliothek Deutschlands
Die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB) ist mit einem Bestand von über 3,6 Mio. Büchern die drittgrößte Bibliothek Deutschlands. Seit ihrer Gründung im Jahre 1737 durch Georg II. August, Kurfürst von Hannover und König von England, zu- sammen mit der nach ihm benannten Georg-August-Universität Göttin- gen, gilt sie aber auch als die modernste, ist Vorbild und Modell für andere Bibliotheken in Deutschland. Als erste Universitätsbibliothek in Deutschland war sie beispielsweise mit einem festen finanziellen Budget ausgestattet, das es ihr erlaubte, systematisch die gesamte wissenschaftliche Literatur zu sichten und das Beste daraus anzuschaf- fen. Eine Vielzahl von umfangreichen und wertvollen privaten und insti- tutionellen Sammlungen bildete den Grundstock der Göttinger Biblio- thek oder ging im Laufe der Jahrhunderte in ihren Besitz über, und die umsichtige Sammeltätigkeit der Bibliothekare tat ihr übriges. So ist zum Beispiel der Bestand an englischer Literatur des 18. Jahrhunderts heute so groß, daß sich nicht selten sogar die British Library aus London hierher um Hilfe wendet. Und schon Goethe, der hier bei seinen Besuchen im Jahre 1801 viele langgesuchte Werke vorfand und auch solche, von deren Existenz er vorher nichts wußte, sprach von der Göttinger Universitätsbibliothek in den höchsten Tönen des Lobes und der Dankbarkeit.
Trotz ihrer weit über die Grenzen Niedersachsens hinausreichen- den Bedeutung hatte die Göttinger Bibliothek jedoch niemals über ein Gebäude verfügt, das wirklich als Bibliothek konzipiert war. Dieses Schicksal teilte sie mit vielen anderen Einrichtungen einer Hochschule, die zwar im 18. Jahrhundert als die führende protestantische Universi- tät in Deutschland galt, von ihren Räumlichkeiten her aber in ein enges, mittelalterliches Stadtgefüge eingepflanzt worden war, in dem sie sich nur auf Kosten des Abrisses oder der Umfunktionierung alter Bau- substanz ausdehnen konnte und in dem sie seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, bei stark ansteigenden Studentenzahlen, end- gültig aus allen Nähten platzte.
Bereits in den sechziger Jahren wurde daher wenige hundert Meter nördlich des Altstadtwalls als neues Zentrum der Universität ein Campus geschaffen, dessen Bebauung in den siebziger Jahren weit- gehend abgeschlossen war. Als Lücke war jedoch ein Bereich ver- blieben, der einem späteren Neubau der Bibliothek vorbehalten sein sollte. Hierbei handelte es sich nicht um irgendeinen Bauplatz, sondern denjenigen, dem durch seine Lage an der Nahtstelle von Altstadt und Campus eine ganz besondere Stellung im Gesamtgefüge zukam.
Bei der Ausschreibung eines Wettbewerbs für den Neubau der SUB im Jahre 1984 mußte also von Rahmenbedingungen ausge- gangen werden, die die Architekten vor nicht geringe Anforderungen stellten: einerseits sollte das Neubaukonzept in ein architektonisches Umfeld eingepaßt werden, dessen Gesamtanlage und Architektur zwanzig Jahre älter waren; zum anderen stellte die Lage an der vier- spurigen Ringstraße, die den Campus von der Altstadt abtrennt, be- sondere Probleme, war doch die Herstellung einer Verbindung des Campus zur Altstadt durch den Bibliotheksneubau ein ausdrücklich gewünschtes Ziel.
Trotz eines gegenüber dem ursprünglichen, preisgekrönten Entwurf deutlich reduzierten Baukostenvolumens, das durch verschie- dene Vereinfachungen und Optimierungen des Plans erreicht wurde, blieb die Baustelle der SUB in Göttingen lange Jahre die teuerste der öffentlichen Hand in Niedersachsen. Auch dadurch erklärt sich, daß der Neubau erst 1992, nach siebenjähriger Bauzeit fertiggestellt werden konnte.
Heute verfügt Göttingen nicht nur über eine der bei den Stu- denten nach wie vor beliebtesten Universitäten des Landes, sondern auch eine Bibliothek, die als die komfortabelste und von ihren Räum- lichkeiten her vielleicht ansprechendste in Deutschland gelten kann. Dem Architektenteam unter Prof. Eckhard Gerber aus Dortmund ist es gelungen, mit seinem Entwurf nicht nur die Probleme, die die Bauauf- gabe und der spezifische Bauplatz aufwarfen, bravourös zu meistern, sondern ein Gebäude zu schaffen, das diesem zentralen Punkt im neuen Göttinger Stadtbild ein markantes und sympathisches Gesicht gibt. Es gelang den Architekten, einerseits auf den gegebenen Baubestand am Platz und dessen Gesamtanlage Rücksicht zu nehmen, also die bestehenden Ideen nicht einfach zu übergehen, sondern aufzugreifen und fortzuführen, aber gleichzeitig eine Eigenständigkeit und Dynamik neuer Impulse zu beweisen, die heute das gesamte städtische Umfeld mitzureißen beginnt: an dem interessanten, sich in Sichtweite der SUB befindlichen und ihr Motiv der exponierten Rotunde aufgreifenden Neubau der VGH Versicherung läßt sich das ablesen sowie am Umbau der einstmals tristen, der SUB gegenüberliegenden und von den Landschaftsplanern mühsam versteckten Opelhallen zu einem großen, jetzt deutlich attraktiveren Fitneßzentrum.
Und wenn die Planer der neuen Bibliothek auch mit einer Reserve der Büchermagazine für die nächsten fünfzehn Jahre gerech- net hatten, so doch wahrscheinlich mit etwas anderem nicht: mit dem Phänomen, daß es in den Wintermonaten schwer ist, einen freien Garderobenschrank zu finden, einen noch unbelegten der fast 600 Plätze in den Lesesälen oder auch nur einen Tisch in dem vier- stöckigen, in der verglasten Rotunde untergebrachten Café. Welches weiteren Beweises bedarf es, um den Erfolg der Bemühungen seitens der Architekten zu demonstrieren, in der Bibliothek eine Atmosphäre zu schaffen, in der das Lesen und Arbeiten Spaß macht?
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