Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
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Dominikanerkirche Göttingen

Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen 3v25

Bild: © Roland Salz 2014

II. Geschichte: Der Katalogsaal im gotischen Kirchenschiff

 

Göttingen, im südöstlichen Niedersachsen gelegen, gilt heute als eine der traditions- und atmosphärenreichsten deutschen Universitätsstädte. Obwohl die Stadt im vereinten Deutschland eine zentrale geographi- sche Lage einnimmt und durch die großen, in Nord-Süd-Richtung durch das Leinetal verlaufenden Verkehrsachsen sehr gut angebunden ist, erfreut sich Göttingen bis heute einer weitgehend intakten, unzer- siedelten Landschaftsumgebung: das breite, liebliche Leinetal wird von abwechslungsreichen Bergländern gesäumt, dem Göttinger Wald, der sich nach Osten zum thüringischen Eichsfeld hinüberzieht, oder dem Solling, der die Verbindung zum Weserbergland im Westen herstellt. Malerische Fachwerkdörfer, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint und die alten Leute noch Platt sprechen, wenn sie sich bei ihren Spaziergängen unter den Weiden am Bach treffen, sind in die Landschaft eingestreut. Und als ob sich nicht jedes Dorf schon durch seine je unverwechselbare Lage zwischen Feldern, Höhenzügen und Laubwäldern von den anderen genügend auszeichnen würde, so muß es auch immer einen Kirchturm haben, der sich von allen anderen Kirchtürmen im weiten Umkreis unterscheidet.

          Göttingens heutiger Ruf als Universitätsstadt läßt leicht verges- sen, daß die Stadt im Mittelalter ein ganz anderes Gesicht hatte. Nicht die Wissenschaften führten zu ihrem Aufstieg, sondern der verkehrs- günstige Handelsplatz im Dreiländereck von Niedersachsen, Hessen und Thüringen, an der Kreuzung zweier überregionaler Handelsstraßen gelegen. Kaufleute waren es, die die vom Welfenfürsten Heinrich dem Löwen gegründete Stadt jahrhundertelang beherrscht hatten, zuerst wirtschaftlich, dann auch politisch. Ausgesprochen selbstbewußt hatten sie sich bald ihrer Landesherren entledigt und die Stadt sogar in den Hansebund geführt. Hinter einem ausgeklügelten System städtischer Verteidigung fühlten sich die Göttinger Bürger so sicher, daß sie regelmäßig auszogen, um die umliegenden Adelsburgen zu verwüsten, wobei sie nicht einmal die nahegelegene, altehrwürdige Kaiserpfalz Grona verschonten. Selbst einem päpstlichen Bann vermochte die Stadt zu trotzen, diesmal mit diplomatischem Geschick.

          Noch heute zeugt die Altstadt von dieser frühen Glanzzeit: mit dem steinernen, archaisch wirkenden gotischen Rathaus aus dem 13. Jahrhundert, einem der ältesten in Deutschland, und den fünf gotischen Stadtkirchen, allen voran der Marktkirche St. Johannis mit ihren beiden markanten, ungleichen Türmen und der Pilgerkirche St. Jacobi, dem höchsten, aber dafür nur eintürmigen Sakralbau der Stadt.

           Die Universität dagegen trat erst ins Leben, als die erste Blüte der Stadt längst erloschen war. Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges hatten Göttingen zur Agrarstadt werden lassen. Ein neuer wirtschaftli- cher Aufschwung setzte erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein, und kurz darauf wurde die hannoversche Landesuniversität Georgia-Augusta in Göttingen gegründet. Erst 1763, nach Ende des Sieben- jährigen Krieges, wurde die Stadt entfestigt. In der engumgrenzten, mittelalterlich strukturierten und bis heute weitgehend erhaltenen Alt- stadt bliebt die Universität immer ein Fremdkörper, und lange Zeit mußte sie sich mit einer Gebäudesubstanz begnügen, die für ganz andere Zwecke entworfen war. So auch die berühmte Universitäts- bibliothek, die bis Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in einem unübersichtlichen, bedrückenden, geradezu kafkaesken Laby- rinth Dutzender kleiner und kleinster, jeweils unterschiedlicher, aber doch nicht unterscheidbarer Räumlichkeiten angesiedelt war, durch die man, treppauf und treppab, irgendwann in einen riesigen gotischen Kirchenraum gelangte, der zum zentralen Katalogsaal umgebaut wor- den war. Bei diesem Kirchenraum handelte es sich nicht um irgend- einen, sondern um den größten und zugleich ältesten der Stadt: das Gotteshaus des im Mittelalter mächtigen Dominikanerklosters, das im Verlauf der Reformation säkularisiert und seitdem auf die verschie- densten Weisen zweckentfremdet genutzt worden war. Die Aula der Universität, ihren einzigen großen, innerstädtischen Neubau, hatte man auf dem Areal der anderen großen Klosteranlage der Stadt errichtet: 1820 fielen dem klassizistischen Entwurf die noch verbliebenen Mau- ern des gotischen Franziskanerklosters zum Opfer.

          In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts faßten die vielen kleinen, über die Stadt verstreuten Einzelgebäude die Universität end- gültig nicht mehr, und man begann nach planerischen Gesamtkonzep- ten für deren bauliche Neuorganisation zu suchen. Drei große Areale, allesamt nördlich der Altstadt gelegen, wurden für die Universität erschlossen: das sog. Geisteswissenschaftliche Zentrum (GWZ), das aufgrund seiner unmittelbaren Nähe zur Altstadt die wichtigsten Einrich- tungen der Universität beherbergen und so zu ihrem neuen Herzen werden sollte und dessen Planung und Bebauung als erstes in Angriff genommen wurde; das Klinikzentrum etwas weiter außerhalb der Stadt; und schließlich der sog. Nordbereich, das Zentrum für die Naturwis- senschaften, am weitesten von der Altstadt entfernt.

           Das Geisteswissenschaftliche Zentrum, der zentrale neue Cam- pus, gruppiert sich um eine große, nahezu quadratische Freifläche, den Platz der Göttinger Sieben. Mit dieser Namensgebung sollten jene sieben Göttinger Professoren geehrt werden, unter ihnen die beiden Germanistenbrüder Grimm, die durch ihren spektakulären Protest ge- gen die Aufhebung der Landesverfassung durch den Hannoverschen König Ernst August II. im Jahre 1837 das liberale Denken in Deutsch- land entscheidend stimulierten, aber dafür ihre Ämter verloren. Vor kurzem ist den sieben Professoren auch in der Landeshauptstadt Hannover an zentraler Stelle ein Denkmal errichtet worden: der Italiener Floriano Bodini schuf eine lebensgroße Skulpturengruppe aus Bronze, die neben dem Plenarsaal des Landtags aufgestellt wurde. Das verkleinerte Wettbewerbsmodell dieser Gruppe, ebenfalls aus Bronze, steht heute im Foyer der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.

          Ende der siebziger Jahre wurde das neue Universitätsklinikum fertiggestellt, ein monolithischer weißer Quader von fabrikähnlichen Ausmaßen, mit dicken schwarzen, würfelförmigen Schornsteinen. So konnten die aus den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stammenden, zweifarbig verklinkerten und mit weit überstehenden Walmdächern versehenen Gebäude des Altklinikums, die unmittelbar östlich des GWZ liegen, umfunktioniert und dem zentralen Campus zugeschlagen werden. Dieser konnte dadurch seine Größe verdoppeln. In den Gebäuden des alten Universitätsklinikums sind heute die philologischen Wissenschaften untergebracht, und der alte Opera- tionssaal, mit seinen fast senkrecht ansteigenden Sitzreihen für die Studenten, dient heute als Bühne für das studentische Theater im OP.

 

 

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