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IV. Ankunft: Selbstverhüllende Schauseiten
Wie anders präsentiert sich die Bibliothek dem Besucher, der sie, vielleicht vom Bahnhof kommend, von Südwesten her erreicht. Wenn er nicht einen Bus genommen hat, wird er den knappen Kilometer zu Fuß gegangen sein, die stark frequentierte Berliner Straße entlang. Sie bildet einen Teil jenes vierspurigen Verkehrsrings, der auf dem Gelände der einstigen Stadtbefestigung angelegt worden ist und die Altstadt auf drei Seiten umfaßt. Der Besucher geht also außen an der Altstadt vorbei, um sie herum, wird von ihr dabei nicht viel mehr erblicken als einen der erwähnten gotischen Kirchtürme (von denen übrigens die meisten auf dem letzten deutschen Zehnmarkschein abgebildet waren).
Wüßte unser Besucher nicht, daß es der kürzeste Weg ist, so würde er diesen Gang entlang der gesichtslosen Ringstraße wohl nicht gewählt haben. Er würde statt dessen den kleinen Umweg durch die Altstadt unternehmen, wo ausgedehnte Fußgängerzonen zum Verwei- len einladen. Was nicht ist, kann noch werden, denkt er sich aber. Die Cafés auf dem Marktplatz, vor dem Alten Rathaus, laufen nicht weg, und später am Nachmittag ist es dort um so interessanter, wenn sich, rund um das Colosseum, die Studenten und Dozenten, die Tutoren, Kandidaten und Doktoranden, die Habilitanden, Privatdozenten und Professoren, mit einem Wort: die ganze Universität zum gemütlichen Teil des Tages wiedertrifft. Vielleicht läßt sich dann auch schon, so denkt sich der Besucher, in aller Ruhe und Muße eines jener Bücher aufschlagen, die er in der Staats- und Universitätsbibliothek zu finden hofft.
Die immer wieder stockenden Autoschlangen und die in der Ferne sichtbaren Ampeln zeigen dem vom Bahnhof Kommenden, daß er sich der großen Kreuzung nähert, die den Verkehrsknotenpunkt nördlich der Altstadt bildet. Direkt hinter ihr, zur Linken, muß der Campus beginnen, so zumindest sagt es der Stadtplan. Aber noch immer ist nichts davon zu sehen. Statt dessen versperren große, gelbe Verkehrsschilder, ein Möbeltransporter mit Anhänger und mehrere Lieferwagen die Sicht nach vorn. Dann springt die Ampel auf grün, er geht unter dem gelben Schild hindurch und plötzlich gibt die Straße den Blick frei auf den Ausschnitt einer Fassade, die sich in einigem Abstand hinter der Kreuzung erhebt. Zwischen dem Auditorium auf der einen Seite, rechts hinter der Kreuzung gelegen und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in neoromanischem Stil erbaut, und einer merk- würdigen, in hellem Blaugrün gestrichenen Säule auf der anderen Seite der Kreuzung blickt der Besucher hindurch auf eine zweistöckige, vertikal strukturierte Glasfront. Sie steht nicht unmittelbar auf dem Erdboden, sondern ist stockwerkshoch mit schlanken Pfeilern aufge- ständert, wie um aus der Ferne einen besseren Überblick über die vielfältigen Verkehrsflüsse der Kreuzung zu bekommen. Die Glasfas- sade wirkt aber nicht glattflächig, sondern weist komplizierte, von hieraus noch nicht gut zu unterscheidende Profilierungen auf. Obwohl der Baukörper in einigem Abstand hinter diesem ersten, exponierten, nicht nur mit einer Glasfront versehenen, sondern auch einem gläsernen Satteldach bekrönten Gebäudeteil noch an Höhe gewinnt, scheint er insgesamt eher breit als hoch zu sein, dominieren doch in seinem Dachbereich mächtige Horizontalen, die über den gesamten hinter der Kreuzung sichtbaren Bereich und weit jenseits der giftgrünen Säule nach links, zum Campus hin ausgreifen.
Wieder springt die Ampel um, und jetzt ergießt sich eine Flut von Fußgängern und Radfahrern über die breite Straße. Es scheint, als ob sich beide Gruppen denselben, schmalen Überweg teilen müßten, so sehr sind beide Ströme ineinander verzahnt. Um jeden Dezimeter Raum wird da gekämpft, nichts wird verschenkt, jeder will noch dabei sein in der kurzen grünen Ampelphase. Aber mitten auf dem Überweg kann es geschehen, daß man unerwartet gerade auf denjenigen Freund oder diejenige Freundin trifft, dem oder der man noch etwas Wichtiges mitzuteilen hatte: den Ausfall einer gemeinsam besuchten Vorlesung etwa, oder vielleicht die frohe Nachricht einer bestandenen Prüfung. Und so wird einfach angehalten oder stehengeblieben und gerade dieser zeitliche und räumliche Engpaß zu einem Schwatz genutzt, der erst unter dem Hupen der nächsten herannahenden Autolawine ein jähes Ende findet.
Auch unser Besucher hat die Kreuzung unter Aufbietung all seiner Konzentration gesund überquert und folgt nun in Richtung zum Campus ganz einfach dem Strom der Studenten, der hier immer schneller fließt, wie das Bergwasser beim Lauf durch eine sich verengende Schlucht. Der kombinierte Fuß- und Radweg, der ange- sichts des hier herrschenden Verkehrs viel zu schmal erscheint, führt an einem großen Fitneßstudio entlang. Hinter hohen Glasscheiben erkennt der gemütlich Vorbeigehende allerlei sportliche Gestalten beiderlei Geschlechts, die, mit Blick nach draußen, auf Laufbändern traben oder aber energisch in die Pedalen ihrer festmontierten Fahrrä- der treten und die, wenn sie sich auch nicht von der Stelle bewegen, einen genauso zielorientierten Gesichtsausdruck an sich haben wie ihre Kommilitonen, die auf der anderen Seite der Scheibe die Ge- schwindigkeit ihres Fahrrades oder ihres Ganges maximieren, um die lästige Wegzeit zum Campus zu minimieren.
Der Weg führt jetzt leicht bergab, fällt deutlich unter das Niveau der parallel entlangführenden, durch eine grasbewachsene Böschung abgesetzten Ringstraße und erreicht seinen tiefsten Punkt beim Eintritt in das eigentliche Campusgelände. Vor dem Besucher hat sich die grüne Säule zu riesenhafter Höhe emporgeschwungen. Bei näherer Betrachtung entpuppt sie sich jetzt als ein gestrichenes, in den Rasen gestelltes Stahlrohr, das lotrecht in den Himmel auszugreifen scheint. Irgendwie hat sie etwas Bedrohliches, findet der Besucher, ohne allerdings klar zu erkennen, warum eigentlich. Aber noch andere Zeugnisse zyklopischer Kräfte sind zu sehen: große Steinquader liegen rings umher auf einer Rasenfläche verteilt, die ihrerseits unregelmäßig ansteigt zu dem dahinterliegenden Bibliotheksgebäude. Und genau in dem Moment, da der Besucher dieses ins Auge fassen will, setzt dort ein lautes Quietschen ein, das ihn ganz in seinen Bann zieht: wie von Geisterhand bewegt fahren vor allen Scheiben helle Rollos herunter, im Gleichschritt, bis sich die großen, verwinkelten Glasfronten vollständig geschlossen haben.
Gerade einen Moment zu spät war es also, um etwas vom Inneren dieser Räume zu erhaschen, die von der Kreuzung aus so verlockend erschienen waren. Der Besucher bleibt stehen und blickt sich um. Niemand scheint von dem merkwürdigen Vorgang Notiz genommen zu haben. Unbeirrt zieht der Fluß der Studenten weiter, macht jetzt eine scharfe Biegung nach links, und dann geht es auf breitem Weg wieder bergauf, zwischen dem Bibliotheksgebäude zur Rechten und einer künstlichen Wasserkaskade zur Linken, dem langen, scharfen Schatten der grünen Säule folgend, der wie ein riesenhafter Wegpfeil zum magischen Zentrum des Geschehens zu weisen scheint.
Noch einmal wendet sich der Betrachter zurück. Wie mit ge- schlossenen Lidern stehen die vorderen, aufgestelzten Ausläufer des Bibliotheksgebäudes auf der kleinen Anhöhe hinter den verstreuten Steinquadern. Angesichts der mittäglichen Sonne scheint dieser expo- nierte Gebäudekopf in einen siestaartigen Schlafzustand übergegan- gen zu sein, den Blick nach innen gekehrt, wo die geistigen Prozesse jetzt ohne Kontakt zur Außenwelt ablaufen.
Es ist heiß und trocken, und so hält sich der Besucher bei seinem Anstieg hinauf zum Campusgelände an den künstlichen Wasserlauf gegenüber. Ein schmaler Streifen Strauch- und Baumbepflanzung grenzt ihn auf der Rückseite ab von dem Fitneßcenter, aus dem jetzt schnellschlagende Musik und mikrophonverstärkte Kommandos zu hören sind. In die von Betonrändern eingefaßten, abgestuften Wasser- bassins sind künstliche, liebevoll gestaltete Pflanzeninseln eingestellt, mit Schilf, Binse und gelb blühenden Schwertlilien. Sogar Goldfische hat man ausgesetzt, die jetzt verständnislos um die kleinen Holzleitern herumschwimmen, die den hineingefallenen Kröten den Weg zurück ins Trockene ermöglichen sollen.
Immer mehr Studenten steuern jetzt die Fahrradständer an, springen ab und schultern schwere Taschen. Vor dem Besucher erhebt sich eine Rotunde, ein fünfstöckiger Rundbau aus Stahl und Glas, der aus dem Hauptgebäude heraustritt und dieses überragt. Auch dieser Bauteil ist im Erdgeschoß aufgeständert, eine Art von offenem Lau- bengang führt um einen zylinderförmigen, mit Betonsteinen verkleideten Kern herum. Außen wird er von den Stahlstützen begrenzt, die die Rotunde tragen. Und dieser Laubengang ist es auch, der das Ziel der Studenten darzustellen scheint. An seinen beiden Schnittpunkten mit dem Hauptgebäude kreisen unablässig die Drehtüren, vor denen man sich einreiht, um ohne Zeitverlust in das Innere des Bauwerks gelangen zu können.
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