VII. Die Auflösung der Nordfassade
Die Nordseite der Bibliothek erscheint vom Forum her nur auf den ersten Blick so streng und schmucklos wie die flacheren Fakultätsge- bäude aus den sechziger Jahren. Zwar hat sie mit diesen die recht- winklige Grundanlage gemeinsam und die Verkleidung mit hellen Natur- steinplatten, ihre Struktur erweist sich aber bei etwas näherem Hinse- hen als wesentlich komplexer im Vergleich zu ihren Schwestern zu beiden Seiten. Tatsächlich ist der Grundfassade eine zweite Fassade vorgestellt, von gleicher Höhe, aber auf beiden Seiten etwas eingezo- gen. Die vordere Fassade ist zudem auf rechteckigen, ebenfalls mit Steinplatten behängten Pfeiler abgesetzt und läßt auf diese Weise im Erdgeschoß Raum für einen – wenn auch sehr schmalen, nur optisch wirksamen und keine praktische Bedeutung aufweisenden – Lauben- gang. Immerhin begegnet uns hier das Motiv der Aufständerung zum dritten Mal, nach den verglasten Fingern im Südwesten und der Ro- tunde am Eingang. Überall greift das Gebäude in den oberen Stock- werken also zu den Seiten aus, neigt sich vor, gewinnt Raum, scheint sich vom Boden lösen zu wollen. Und noch eine weitere Gestaltungs- weise kehrt wieder, scheint leitmotivischen Charakter für das Gesamt- gebäude zu besitzen: auch hier ist das Erdgeschoß, wie bei der Ro- tunde, auf der Rückseite des Laubengangs mit Betonsteinen verklei- det, wenn auch nur auf der linken Hälfte. Nur wenige kleine Fenster- öffnungen sind hier eingelassen, während sich auf der rechten Hälfte, jenseits einer geschoßhohen, abgeschrägten Trennlinie, eine ganzflä- chige Verglasung zeigt wie auf der Südwestseite des Gebäudes.
Die sieben Arkadenpfeiler der vorderen Nordfassade gliedern diese in sechs Fassadenjoche. In den oberen drei Stockwerken der mittleren vier Joche greifen die Innenräume des Gebäudes bis zu dieser vorderen Fassadenebene vor, erkennbar an der Durchfenste- rung. In den beiden äußeren Jochen ist die vorgestellte Fassade dagegen – zumindest in Teilen – geöffnet, ähnlich wie dies im ge- samten Erdgeschoß der Fall ist. Die Innenräume werden hier von der dahinterliegenden, zweiten Fassadenebene begrenzt.
Interessant ist bei dieser fast ausschließlich mit den Mitteln der Rechtwinkligkeit strukturierten Gebäudefront die kontinuierliche Ent- wicklung einiger Gestaltungsweisen von unten nach oben sowie von der Mitte zu den Rändern hin. Zum einen wird die Fassade nach oben hin immer kompakter und flächiger. Über den offenen Arkaden des Erdgeschosses sind im ersten Obergeschoß die jochbegrenzenden Pfeiler – in den inneren vier Jochen – noch deutlich zu erkennen, als etwas aus der Fassadenflucht vortretende Bauteile. Die Bereiche da- zwischen sind vollständig verglast. In den beiden obersten Ge- schossen dagegen verschwinden die Pfeiler in der jetzt glatten Fassa- denfläche, und an die Stelle der jochbreiten Verglasung zwischen ihnen tritt eine Folge von jeweils fünf Einzelfenstern.
Der umgekehrte Prozeß einer zunehmenden Auflösung der vorderen Fassade, verbunden mit einem Gewinn an räumlicher Tiefe, zeigt sich zu ihren Seiten hin. In den beiden äußeren Jochen werden die Arkadenbögen des Laubengangs zweigeschossig, öffnen also auch die Bereiche des ersten Obergeschosses und werden dadurch nahezu quadratisch. Zwischen ihnen setzen leichte, stählerne Balkone die Geschoßfläche des ersten Stocks fort. Während sie vorne mit der vorgestellten Fassade fluchten, ragen sie seitlich hinter ihr hervor und erreichen fast die Ränder der breiteren, hinteren und hier eigentlichen Gebäudefront. Auch die beiden obersten Geschosse der äußeren Fassadenjoche sind durchbrochen, diesmal durch je zwei schmale, pa- rallele und ebenfalls zweistöckige Öffnungen, die zusammen aber nicht die ganze Breite des Fassadenjochs ausmachen. Während die Balko- ne in diesen Öffnungen im zweiten Obergeschoß einen loggiaähnlich geschlossenen Charakter annehmen, durch die hier steinernen Brü- stungen bedingt, die durch die Unterkanten der Fassadendurchbrüche gebildet werden, weisen diejenigen darüber, im obersten Stockwerk, eine für die gesamte Fassade bedeutsame Eigenart auf: sie greifen, hier wieder von stählerner Leichtigkeit, durch die beiden parallelen, rechteckigen Öffnungen hindurch und wachsen vor der äußeren Fassade wieder zusammen. So liegen die vorderen Abschnitte dieser beiden Doppelbalkone exponiert an den oberen Ecken der Gebäu- defront wie die seitlichen Kommandobrücken eines Schiffes. Dieser Eindruck wird durch die filigranen, relingartig gestalteten Metallgeländer noch verstärkt. In dieser herausgehobenen Position – nirgendwo sonst wird die äußere Nordfassade nach vorn durchbrochen – heben sich die beiden Balkone aber noch durch ein weiteres Gestaltungsmerkmal ab: ihre Vorderkanten sind konvex gekrümmt; so setzen sie einen merk- baren Akzent gegen die ansonsten überall durchgehaltene Rechtwink- ligkeit und umschließen die gesamte Nordfassade wie eine Klammer.
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