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XIII. Die Rotunde, das schiefe Rohr und der Skybiker
Wer das Gespräch mit dem Mitstudenten, dem befreundeten Wissen- schaftler oder dem Arbeitskollegen etwas ausdehnen und darüber ei- nen Kaffee trinken, ein Sandwich oder ein Stück Kuchen essen will, der wird sich in die Café-Rotunde hinaufbegeben. Auch wir greifen den Vorschlag unseres Freundes gerne auf, zum Kaffee die Rotunde zu erklimmen, und zwar – um den besten Überblick, wie er uns verspricht, nicht nur über den Campus, sondern ganz Göttingen, ja sogar das Leinetal zu bekommen – bis in die oberste Etage.
Der Baukörper der Rotunde erstreckt sich über alle acht Stock- werke des Gebäudes: er reicht vom dritten Untergeschoß bis zur ober- sten Etage des Cafés im vierten Obergeschoß. Von seiner Struktur her bildet er ein System ineinandergestellter Zylinder. Neben dem bereits erwähnten äußersten Zylinder der Stahlstützen und dem gemauerten, mit Betonsteinen verkleideten mittleren, der die Wendeltreppe beher- bergt, finden sich noch zwei weitere. Einen halben Meter innerhalb der Stahlstützen setzt im ersten Obergeschoß eine Stahlglasfassade an, konstruiert nach dem Pfosten-Riegel-Prinzip. Während dieser gläserne Zylinder bis zum obersten Stockwerk der Rotunde hochgeführt ist, endet der äußere Kranz der sechzehn Stahlstützen (im Erdgeschoß und ersten Obergeschoß sind es nur acht) bereits ein Stockwerk tiefer. Die Rotunde verjüngt sich dadurch optisch im obersten Geschoß, ist dort aber auch grundlegend anders konstruiert. Den beiden Besuchern des Cafés werden die Unterschiede, wenn sie das oberste Stockwerk erreicht haben, sicherlich auffallen.
Sowohl der Glaszylinder als auch der äußere Stahlstützenkranz verschneiden sich mit dem Innenraum der Eingangshalle. Auch die da- zwischenliegenden, schmalen Laufgänge auf jedem Stockwerk sind in dem innenliegenden Viertel der Rotunde begehbar.
Den innersten der insgesamt vier ineinandergestellten Zylinder bildet der Lastenaufzug, der bis in das erste Obergeschoß hinaufreicht, wo sich die Verkaufstheke des Cafés befindet. Dieser Aufzug bildet den geschlossenen Kern der Wendeltreppe in den unteren Geschossen.
Den interessantesten Anblick bietet die Eingangsrotunde nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Innenbeleuchtung der einzelnen Etagen die Glasfassade für den Betrachter von außen transparent macht und so den Blick auf den betonsteinverkleideten Kern des Rundbaus freigibt. Während die Rotunde tagsüber, durch die Aufstän- derung im Erdgeschoß, wie ein breiter Zylinder erscheint, der einem schmaleren aufgesetzt ist, wird in der Dunkelheit deutlich, daß dieser schmale Kern bis oben hochgeführt ist und die Glasfassade diesem nur „umgehängt“ ist wie ein durchsichtiger Regenmantel.
So, wie sich der Kern der Rotunde tief aus dem inneren der Erde heraus bis in die fünfte oberirdische Etage erhebt, so erleben die Besucher den Aufstieg in der Wendeltreppe als einen kontinuierlichen Aufstieg von der Dunkelheit zum Licht. Haben sie etwa, nach absol- viertem Bücherstudium in den Lesesälen, ihre Garderobe im Unterge- schoß aus den Schließfächern aus hellem Buchenholz abgeholt, so können sie, ohne die Eingangshalle noch einmal durchqueren zu müs- sen, über die Wendeltreppe direkt ins Café hinaufsteigen. Aus dem fensterlosen Keller gelangen sie auf diesem Wege in den Windfang- bereich am Eingang, der zwar schon von Tageslicht beleuchtet wird, allerdings, seinem Charakter als engem und innenliegendem Viertel- zylinder entsprechend, überwiegend noch indirekt. Die beiden Besu- cher werden deshalb hier nicht pausieren, sondern sogleich weiter- steigen zum ersten Obergeschoß, in dem sich nun der Rotundenkern innerhalb des Glaszylinders ungehindert umrunden läßt. Mit heißem Kaffee und frischem Kuchen ausgerüstet geht es sodann weiter die Wendeltreppe nach oben, immer im Uhrzeigersinn.
Im zweiten Obergeschoß tritt im Auge der Wendeltreppe ein freier Luftzylinder an die Stelle des geschlossenen Liftschachts. Und die Treppe wird jetzt nicht mehr nur durch die beiden nebeneinander- liegenden Zugangsöffnungen auf jeder Etage natürlich belichtet, son- dern erhält auch Tageslicht von oben. Der Verkaufsbereich, der im er- sten Cafégeschoß mit seinen Schrankeinbauten aus Buchenholz die Durchsicht auf den hinter ihm liegenden Innenraum der Eingangshalle weitgehend verstellt, fällt im darüberliegenden Stockwerk fort. Jetzt ist der Blick, von den wiederum im Kreis entlang der Fenster aufgestellten, sinnigerweise leicht trapezförmigen Tischen, nicht mehr nur nach außen, auf den Campus, sondern auch ins innere des Gebäudes hinein frei, und das innenliegende Viertel der Rotundenetage profitiert vom Lichteinfall durch das Glasdach und die Oberlichter der großen Eingangshalle.
Im dritten Obergeschoß wird das durch den verglasten Zenit in die Wendeltreppe gelangende Licht deutlich stärker. Gleichzeitig öffnet sich die über dieser Caféetage liegende Decke: rings um den steinernen Kernzylinder entsteht ein Luftraum, durch den man von diesem Stockwerk allseits in das darüberliegende, oberste hinaufse- hen kann. Und dann löst sich, beim noch weiteren Aufstieg, auch die bisher undurchlässige Wand der Wendeltreppe selbst auf, in zwei nach Nordwesten gerichteten, fensterartigen, die Geschoßgrenze übergrei- fenden Öffnungen, die die vom Treppensteigen mittlerweile reichlich erschöpften Besucher mit einem Durchblick nicht nur auf die beiden obersten Caféetagen gleichzeitig belohnen, sondern – weiter durch die Außenscheiben – bereits das Panorama erahnen lassen, das die Freunde gleich in Ruhe werden genießen können.
Vom dritten Obergeschoß aus war noch ein Blick hinunter in die Eingangshalle der Bibliothek möglich, beim Betreten des vierten da- gegen sehen die Besucher bereits über ihr Dach hinweg. Aber noch etwas anderes fällt sofort auf: die außenliegenden, massiven Stahl- stützen, die die Rotunde über vier Stockwerke getragen haben, sind verschwunden und in diesem obersten Geschoß durch einen Kranz von acht extrem schlanken Stahlsäulen ersetzt, die innen vor die Glas- fassade gestellt sind. Und auch die zylindrischen, durchlöcherten Stahl- blenden, durch deren automatische Verschiebung sich die drei darun- terliegenden Caféetagen vor zuviel Sonnenlicht schützen lassen, die aber dafür auch bei trübem Wetter immer einen Teil der Sicht und des Lichtes wegnehmen, sind im obersten Stockwerk durch – diesmal innenliegende – Rollos ersetzt, die im hochgefahrenen Zustand keiner- lei Blickbeschränkung mehr darstellen.
Als die beiden Besucher die Wendeltreppe endgültig verlassen und das steinerne Brückchen über den erwähnten Deckendurchbruch passieren, wagen sie kaum noch zu atmen: so filigran erscheint ihnen die Statik dieses Turmes, so schwebend der Raum. Sie können sich aussuchen, in welche Richtung, mit welchem Blick sie sich setzen wol- len: nach Osten, wo sie hinter dem Dach der Bibliothek die Höhenzüge des Göttinger Waldes und den Bismarcktum erkennen; nach Norden, mit freier Sicht über das Forum, die Promenade der japanischen Kirschbäume, den Hörsaal- und Mensakomplex, die Insektenaugen des Blauen Turms und die schwarzen, würfelförmigen Schornsteine des neuen Klinikums im Hintergrund; nach Süden, zur Altstadt hin, wo jetzt nicht mehr nur der Turm von St. Jacobi, sondern auch diejenigen von St. Johannis, St. Albani und St. Marien zu erkennen sind, dazu der Dachreiter des Alten Rathauses und die Betonsilhouette des Neuen; oder aber nach Westen, in Richtung zum Leinetal, wo sie Blickkontakt mit der neuen, zweiten Rotunde in diesem architektonischen Umkreis aufnehmen können, die auf das Dach der VGH-Versicherung jenseits der großen Kreuzung gesetzt ist, mit ihrem eingeschnittenen, durch zwei giftgrüne (!) Wände begrenzten Schacht, und hinter der nicht nur der Hagenberg am Horizont erkennbar wird, wo einstmals die Kaiser- pfalz stand, sondern auch das Panorama der Höhenzüge von Weser- bergland und Solling.
Die beiden Besucher haben sich nach mehrfachem Rundgang, mit dem Tablett in der Hand, für einen Tisch nach Süden, zur Altstadt hin entschieden – in die Richtung, in die sie sich anschließend begeben wollen, um noch etwas mehr von Göttingen, seinen Bauwerken und seinem Leben zu erfahren. Unwillkürlich fällt ihr Blick dabei auf das schiefe, giftgrüne Rohr, das sich so sehnsüchtig der gleichgefärbten Turmkappe von St. Jacobi zuneigt.
Was es mit dem Radfahrer auf sich habe, der seitlich an dem großen Lichtmast auf dem Forum montiert ist, auf der anderen Seite der Rotunde, fragen wir nach einer Pause den Freund, diesem auf einem rosafarbenen Fahrrad sitzenden, durchsichtigen Radfahrer aus Draht? Der Freund lächelt. Er erzählt uns, wie der eines Morgens, im Sommer 1994, dort unten die Schräge der grünen Säule emporgefahren war. Niemand wußte, wo er herkam und wie er dort hinaufgekommen war. Alle waren verdutzt. Die Zeitungen berichteten darüber, und bald hatte man ihn den Skybiker getauft. Ganz Göttingen war begeistert von die- ser Idee und plötzlich lobte man die Skulptur in den höchsten Tönen, über die man sich noch kurz zuvor als „Giftgrünes Rohr für 500.000 DM“ empört hatte.
Aber warum hängt der Skybiker jetzt woanders, fragen wir den Freund weiter. Er schweigt eine Weile. Nicht wahr, er gehöre doch auf die grüne Säule, ob wir das nicht auch so empfänden. Der Skybiker war das i-Tüpfelchen, das der Skulptur, ja dem ganzen Ensemble aus Universitätsbibliothek und landschaftsgestaltetem Umfeld noch fehlte. Er hätte für den Campus der Universität Göttingen das werden können, was das Gänseliesel, auf dem Marktplatzbrunnen vor dem Alten Rat- haus stehend, für die Altstadt ist: ein Symbol, weit über die Stadt- grenzen hinweg sichtbar und sinnbildlich. Im Anblick des großen, neu- en, den Geist beflügelnden Bibliotheksgebäudes hätte er den Blick auch hier auf den einzelnen Menschen zurücklenken können, die Be- deutung und Verantwortung seines Tuns. Er hätte zum Inbegriff des- sen werden können, was nicht wenige der jungen Menschen hier erfüllt: trotz aller Widrigkeiten und mit unbeschwerter Lebenslust daranzuge- hen, Neues auszuprobieren und Bestehendes zu verbessern, nicht selten zum Wohle aller.
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