V. Die fünf Finger einer Hand: Der Baukörper von außen
Der Neubau der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek erstreckt sich in Nord-Süd-Richtung, entlang seiner Längsachse, über fast 150 Meter, vom Forum auf der Nordseite bis fast an die vier- spurige Ringstraße im Süden heran, den Nikolausberger Weg, Verlän- gerung der jenseits der großen Kreuzung vom Bahnhof kommenden Berliner Straße. Der Baukörper zerfällt grob in drei Teile: ein L-förmi- ges Rückgrat, die Eingangsrotunde sowie den exponierten, verglasten Lesesaalbereich. An die vier Stockwerke hohe, steinplattenverkleidete und geradlinig gehaltene Ostseite des Gebäudes, die den langen Schenkel der L-Form bildet, schließt sich auf der Nordseite, entlang des Forums, rechtwinklig eine ähnlich gestaltete Fassade von etwa 50 Metern Länge an. Während der lange Schenkel aber nur etwa 10 Meter breit ist, erkenntlich außen an seiner plattenverkleideten Südseite, ist der kurze Schenkel etwa halb so breit wie lang: die Plattenfassade reicht auf der nördlichen Westseite des Gebäudes etwa 25 Meter weit bis zu der Rotunde am Eingang.
Der Rundbau selbst steht mit seinem gesamten Durchmesser von ca. 13 Metern außerhalb des L-förmigen Bauteils, ist mit diesem aber über einen Glasschacht verbunden, der vom Südende der westlichen Plattenfassade rechtwinklig abgeht und auf das Zentrum der Rotunde zuläuft. Südlich der Rotunde verspringt die Außenwand des Hauptgebäudes so weit nach Westen, daß seine Fassade jetzt etwa auf einer Linie liegt, die vom Mittelpunkt der Rotunde ausgehend nach Süden verläuft, parallel zu der Plattenfassade der nördlichen Westseite. Die Rotunde steht auf diese Weise zu drei Vierteln frei, während sich das andere Viertel mit einer rechtwinkligen Ecke des Kerngebäudes verschneidet.
Südlich der Rotunde verläuft die Westfassade des Bauwerks aber nur noch etwa 35 Meter geradlinig weiter. Von da ab kann man nur mehr von einer Südwestfassade sprechen, denn in fünf Stufen gestaf- felt (von jeweils, bis auf die letzte, etwa 11 Metern) verspringt sie jetzt nach Osten, bis sie nach etwa 90 Metern (in der Diagonalen gemessen) auf das südliche Ende des langen, östlichen Schenkels des L-för- migen Baukörpers trifft. Diese West- und Südwestfassade begrenzt einen Gebäudeteil, der, von dem orthogonalen Rückgrat auf zwei Seiten gestützt, auf solch sicherer Basis ein komplexes architektoni- sches „Blütenwerk“ zu entfalten vermag, das sowohl im Westen als auch im Süden über die Begrenzungen des L-förmigen Baukörpers hinausragt: den Bereich der Lesesäle.
Zeigt der orthogonale Baukörper im Osten und Norden im wesentlichen glatte Außenwände, die senkrecht über alle Stockwerke hochlaufen, so ändert sich der Grundriß des südwestlichen Baukörpers von Stockwerk zu Stockwerk. Verhältnismäßig einfach ist er noch im Erdgeschoß, wo er die beschriebene fünfstufige Staffelung aufweist, mit leicht abgeschrägten, aber untereinander parallelen Südfronten. Die letzte, südöstliche Stufe ist weniger als halb so tief wie die voran- gegangenen und schließt genau auf der Flucht des südlichen Endes des L-förmigen Baukörpers ab. Die gesamte West- und Südwestfas- sade des Erdgeschosses südlich der Rotunde ist verglast, was diesen Gebäudeteil von dem steinplattenverkleideten Rückgrat zusätzlich ab- hebt.
Doch ist das Erdgeschoß keineswegs das optisch dominierende Stockwerk des südwestlichen Gebäudeteils. Im Gegenteil, es ver- schwindet fast unter den darüberliegenden zweigeschossigen Aufbau- ten, die wie fünf parallele, nach Süden weisende und nach Osten hin immer länger werdende Finger ausgebildet sind und zum Teil weit über die entsprechenden Stufen des Erdgeschosses hinausreichen. Der gesamte obere Gebäudeteil ist auf runden Betonstützen abgesetzt. Und da die Finger gegenüber den entsprechenden Stufen des Erdge- schosses auch leicht nach Westen versetzt sind, stehen die Rund- pfeiler sowohl im Westen als auch vorne, in den weit nach Süden über- stehenden Bereichen außen vor den Scheiben des Erdgeschosses im Rasen, während sie in den beiden Obergeschossen innen hinter den großflächigen Verglasungen bis zu den Betonflachdächern der einzel- nen Finger weiterlaufen.
In diesen Obergeschossen zeigt die Südwestfassade zwischen den einzelnen, über die Stufen des Erdgeschosses vorstehenden Fingern von Süden kommende Einschnitte, die im Mittel etwa 3 Meter breit und 5 Meter tief sind. An den Stellen dieser Einschnitte weicht die allseits verglaste Fassade der Obergeschosse bis auf die Flucht der leicht abgeschrägten Stufen des Erdgeschosses zurück. Aus der Luft betrachtet würde man jedoch feststellen, daß die Finger noch wesent- lich deutlicher ausgeprägt sind, als man es von außen erkennen kann. Tatsächlich setzen sich die Einschnitte, die sich von oben durch ihre schmalen, gläsernen Satteldächer kenntlich machen, bis weit in das Innere des Gebäudes hinein fort: der Punkt, an dem die Finger (d.h. ihre Betongeschoßflächen und ihre Betondächer) zusammenlaufen, liegt im Westen, zwischen den beiden kleinsten Fingern, etwa 23 Meter hinter der Südfront des Erdgeschosses, im Osten, zwischen den bei- den längsten Fingern, gar 52 Meter. Die Länge der Finger selbst reicht von 27 Metern im Westen bis zu 85 Metern (!) im Osten, bei einer Breite von jeweils etwa 8 Metern.
Die zweistöckigen Aufbauten sind an ihren südlichen Enden deutlich stärker abgeschrägt als die Stufen des gestaffelten Erdge- schosses. Allerdings ist der Winkel nicht bei allen Fingern gleich: insbesondere das Ende des mittleren Fingers weist eine gegenüber den anderen noch deutlich stärkere Abschrägung auf. Von Südosten aus betrachtet wirken die Finger durch die schräg abgeschnittenen Enden sehr spitz und scharfkantig; nach Südwesten dagegen, zum vorge- lagerten Park mit den Steinquadern, dem giftgrünen, schiefen Rohr, der Wasserkaskade und dem Hauptzugang zum Campus, zeigen sie sich mit ihren stumpfen Winkeln.
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