Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
                                                                      Meditationen über Architektur

X. Die Eingangshalle

 

Die große Eingangshalle ist in jeder Hinsicht das Kernstück und Herz der neuen Bibliothek. Fast alle Wege im Innern des Gebäudes neh- men hier ihren Anfang und laufen hierher zurück. Gerade im Kontrast zu der Enge und Lebhaftigkeit des Eingangsbereichs löst dieser Raum, durch seine eindrucksvolle Höhe und Weite und durch den Platz, den er jedem Einzelnen läßt, beim Besucher ein Erstaunen aus, das ihn unmittelbar zur Ruhe kommen läßt.

          Wer das Äußere des Gebäudes genau betrachtet hat, der erkennt bei seinem Betreten sofort, daß die Halle das Bindeglied dar- stellt zwischen dem rechtwinkligen, kompakten Baukörper im Norden und Osten einerseits und der diagonal angelegten, lichtoffenen Struktur im Südwesten andererseits. In ihrem Kernbereich entspricht die Grundanlage der Halle einem langen, spitzen Dreieck, das genau die Lücke ausfüllt, die sich zwischen diesen beiden verschiedenartigen, die Bibliothek konstituierenden Baukörpern auftut. Dieser Kernbereich ist als überdachter Innenhof gestaltet, der sich vertikal über die gesamte Gebäudehöhe von vier Stockwerken erstreckt. Seinen oberen Abschluß findet er in einer großflächigen Dachverglasung, bestehend aus acht hintereinandergestellten Reihen von gläsernen Satteldächern. Die Stahlverstrebungen zur Windstabilisierung des Daches reichen weit in den Innenraum der Halle hinein und geben dem Besucher eine an- schauliche Vorstellung von den Kräften, denen diese Konstruktion standhalten muß. Die Schrägen der Satteldächer sind außen, wie die Glasfronten auf der Südwestfassade, mit Rollos versehen, so daß auch hier das Aufheizen des Innenraums durch Sonneneinstrahlung ge- bremst werden kann.

          Von einem „Kernbereich“ der Eingangshalle muß man deshalb sprechen, weil sie sich von diesem Innenhof aus auf allen Etagen und in eine Vielzahl von Richtungen hin öffnet, entweder ohne jegliche Zwischenwände, oder aber nur durch solche aus Glas getrennt. Am markantesten ist dies im Erdgeschoß. Hier geht die Halle nach Süden ohne Zwischenwände in den Bereich unterhalb der aufgeständerten Fingerstruktur über, in dem die Kataloge und Terminals zur Literatur- recherche aufgestellt sind; nach Nordosten öffnet sie sich tief in den L-förmigen Baukörper hinein, wo eine lange, konkav geschwungene Theke den Bereich der Buchaus- und -rückgabe markiert; und nach Nordwesten schließt sich der nur durch Glaswände von der Halle abgetrennte Bereich der Lehrbuchsammlung an, der bis zu der hier ebenfalls verglasten Nordfassade des Gesamtgebäudes durchgeht. Fast der ganze nördliche, kurze Schenkel des L-förmigen Rückgrats und die gesamte südwestliche Fingerstruktur schmelzen im Erdge- schoß mit der Eingangshalle zu einer einzigen, durchgehend offenen Geschoßfläche zusammen. Und so ist es im Mittelpunkt der Halle möglich, von vier Richtungen aus Tageslicht zu empfangen: von Süden, Westen, Norden und natürlich von oben.

           Der Besucher, der die Halle von ihrer an der Rotunde gelegenen Spitze her betritt, erlebt sie als einen Raum, der sich vor ihm auffächert und ihm praktisch das gesamte Funktionsspektrum der Bibliothek von einem einzigen Blickpunkt aus erschließt. Die am meisten frequentier- ten Dienste sind zudem gleich im Erdgeschoß zugänglich. Die weitge- hende Einsehbarkeit des Gebäudes schon vom Eingangsbereich her, die die Orientierung gerade des Neuankömmlings entscheidend er- leichtert und die ihn nicht nur zur Besichtigung, sondern auch gleich zur Benutzung des vielfältigen Angebots einlädt, beschränkt sich dabei nicht allein auf das Erdgeschoß, sondern erstreckt sich auch auf die oberen Stockwerke des Gebäudes. Im Norden, Osten und Westen führen offene Galerien auf den drei oberen Stockwerken um den Innenhof herum, während die diagonale Südwestseite von einer mar- kanten Freitreppenanlage eingenommen wird. Und selbst die Lese- saalbereiche im ersten und zweiten Obergeschoß reichen im Westen mit ihren Arbeitstischen bis an die Geländer zur Eingangshalle heran – besonders für diejenigen Benutzer geeignet, die auch bei der Arbeit auf das Sehen und Gesehenwerden nicht verzichten wollen.

           Trotz ihrer praktisch allseitigen Offenheit gewinnt die Halle durch einen gemauerten Mittelteil klare optische Konturen und einen festen Halt. Entlang der diagonal verlaufenden Südwestseite des Innenhofes erhebt sich eine vierstöckige, weißgestrichene Wand, der die nach Südosten ausgerichtete, also die vom Eingang herkommende Bewe- gungsrichtung weiterführende, vierläufige Freitreppe vorgelagert ist. Diese erschließt aber nur die beiden mittleren Stockwerke; die oberste Etage zeigt sich im Südwesten nur noch als fensterlose Wand (über den Lesesälen befindet sich hier nur noch ein Technikgeschoß), auf den übrigen Seiten sind seine Galerien zwar vom Innenhof einsehba- ren, aber nicht zugänglichen, da diese Bereiche allein der Verwaltung vorbehalten sind.

           Der weißgestrichene, gemauerte Mittelteil auf der Südwestseite des Innenhofs stellt, zusammen mit der vorgelagerten Treppe, einen komplexen und sehr ästhetischen Bauteil dar. Im Grunde besteht er aus zwei hintereinanderliegenden, von einem Zwischenraum getrennten Schächten auf jeweils längs- und schmalrechteckigem Grundriß, die erst im obersten Stockwerk zu einer geschlossenen Wand zusammen- wachsen. Der sich über drei Stockwerke erstreckende Zwischenraum wird im Erdgeschoß durch den vorgelagerten Treppenabsatz ver- schleiert; im ersten Obergeschoß bildet er den Zugang zum Lese- saalbereich; im zweiten Stock ist er mit einem Geländer abgeschlossen, was ihm einen loggiaartigen Charakter verleiht. Im Erdgeschoß lassen sich die beiden Schächte nicht nur umrunden, sondern man kann auch zwischen ihnen und unter dem Treppenabsatz hindurchgehen. Dieser Bereich ist besonders interessant gestaltet. Vor der nach oben füh- renden Treppe geht eine weitere nach unten, vom selben Ausgangs- punkt und in derselben Himmelsrichtung verlaufend. Nicht nur über ihr, sondern auch vor dem hinteren der beiden Schächte und auf beiden Seiten des Zwischenraum zwischen ihnen ist der Boden des Erdgeschosses geöffnet, wird der Blick frei in das Garderobengeschoß und dieses von oben ebenfalls natürlich belichtet. Die Lichtschächte sind, genau wie die vielfältigen Galerien und die Treppen, durch relingartige Geländer abgesichert. Der Gang unter der Freitreppe und zwischen den Schächten hindurch verengt sich im Erdgeschoß auf diese Weise zu einem schmalen, brückenartigen Steg.

           An die beiden Mittelschächte lagern sich seitlich bzw. rückwärtig, in westlicher bzw. südwestlicher Richtung, zwei kleine Räume bzw. Bereiche an mit jeweils konvex geschwungenen Begrenzungen. Ihre Ausrichtung zueinander verklammert die beiden Einheiten – und damit die Schächte insgesamt –  auf ähnliche Weise, wie dies durch die beiden kommandobrückenartigen Balkone auf der Nordfassade des Gebäudes geschah. Der Bereich an der Spitze des vorderen Schacht ist nur durch eine offene, hölzerne Theke markiert, hier befindet sich die zentrale Aufsicht und Zugangskontrolle zu den obenliegenden Lesesälen. Der Raum auf der Rückseite des hinteren Schachtes ist dagegen gänzlich durch Mauern umschlossen und beherbergt weitere Computerterminals.

          In Begleitung unseres vorgestellten Besuchers haben wir den Raumteil auf der Rückseite der beiden Mittelschächte erreicht. Die diagonale Struktur, die im Innenraum der Bibliothek zuerst an der Aus- richtung der gemauerten Schächte, den parallel zu ihr verlaufenden Freitreppen und den offenen, oberen Geschoßgrenzen auf der Süd- westseite des Innenhofs sichtbar geworden ist, setzt sich nun auch in der Stellung des Stützenrasters fort. Denn die weitgehend offenen Geschoßflächen ruhen, in der Art der Skelettbauweise, lediglich auf schlanken Betonpfeilern, die denjenigen entsprechen, die der Besu- cher schon von außen als die Fingerstruktur der südwestlichen Ober- geschosse tragend erkannt hat. Während die Rundpfeiler im nörd- lichen Bauteil ein rechtwinkliges, zu den Außenmauern paralleles Ra- ster bilden, ergeben sie im südwestlichen Teil ein rautenförmiges Muster, entsprechend der hier schräggestellten West-Ost-Achsen.

          Südwestlich eines breiten Ganges um die Mittelschächte herum stößt der Besucher auf eine Staffelung schmaler, untereinander paral- leler und nach Süden ausgerichteter Raumteile. Ihr Bodenniveau ist gegenüber der einheitlichen Höhe des übrigen Erdgeschosses leicht abgesenkt, und zwar im Zuge der Staffelung von Ost nach West schrittweise abfallend. Die Raumfinger sind dadurch sowohl vom Zu- gangsflur als auch untereinander klar optisch abgegrenzt. Ihnen ent- sprechen auch jeweils unterschiedliche Funktionen. Ein Blick nach draußen zeigt, daß der schrittweise Niveauabfall im Innenraum dem- jenigen des Außengeländes entspricht. Durch die ganzflächigen Ver- glasungen erkennt der Besucher die parkähnliche Landschaft wieder, die er kurz zuvor durchschritten hat.

          Jetzt wird auch die gestaffelte Struktur der Außenfassade des Erdgeschosses klar. Die fünf Stufen entsprechen den südlichen Be- grenzungen der schmalen, parallelen Raumteile, die sich nach Osten zu immer weiter in den Park hinein vorschieben. Dabei formen die abgeschrägten Enden dieser Stufen die Diagonale nach, die das Stützenraster dieses Raumteils von den beiden Schächten im Gebäu- dekern übernommen hat.

          Die vorderen, westlich gelegenen drei Finger des Erdgeschosses sind offen zugänglich, über Stufen einerseits, oder über flache Rampen andererseits. An den übrigen Stellen sind die Höhendifferenzen durch steinerne Brüstungen abgesichert. In den Fingern sind Terminalplätze aufgestellt, vorne für den Internet-Zugang, in den inneren Fingern für die Arbeit mit den Online-Katalogen. Ganz hinten sind jedoch auch die guten alten Zettelkästen noch zu sehen, die für manche Recherchen noch immer unentbehrlich sind.

           In den hintersten, östlichen beiden der fünf Finger hat das Bodenniveau dasjenige des übrigen Erdgeschosses erreicht. Der Zugang in diese beiden Finger ist durch eine elektronische Schranke und eine Aufsichtstheke gesichert, denn hier wir ein Bereich betreten, der mit den darüberliegenden Lesesälen in offener Verbindung steht. Tatsächlich findet der Bibliotheksbenutzer in diesen beiden Fingern die Bibliographien und, was noch wichtiger ist, freundliche Bibliothekare, die bei komplizierten Recherchen persönliche Hilfestellung geben. Selbst in diesen hintersten Bereich, tief im Gebäudeinnern gelegen, fällt reichlich natürliches Licht, durch ein beleuchtungstechnisches „Wun- der“, dem der Besucher gleich weiter nachgehen will.

          Vorher jedoch kehrt er noch einmal in den zentralen Innenhof der Eingangshalle zurück. Nachdem er seine Garderobe und Tasche in einem der Schränke im Untergeschoß verstaut hat, schlendert er einen Moment auf den hellgrauen, polierten Kunststeinplatten der Halle auf und ab. Der lichtdurchflutete Raum ist so groß, daß er die meiste Zeit des Jahres für vielfältigste Ausstellungen genutzt wird. Im Moment jedoch stört nichts den Blick, der frei in alle Richtungen schweifen kann. Dabei bemerkt der Besucher, wie sehr die zuerst eher unauffälligen Diagonalen und Bögen dem Raumes Dynamik verleihen. So sind die gestaffelten Glasdächer zwar parallel zur östlichen Gebäuderückwand ausgerichtet, nicht aber zur hinteren Kante des Innenhofes, die im rechten Winkel zu ihrer diagonalen Südwestseite steht. So ergibt sich vom Eingang her der perspektivische Eindruck, als ob sich das Dach nach Süden neigt. Dann fällt dem Besucher auf, daß nicht nur die große Leihtheke geschwungen ist, sondern auch der Ausschnitt im Hal- lenboden für die Treppe nach unten, und zwar ebenfalls konvex. Die Öffnung vor dem anderen, hinteren Mittelschacht ist dagegen wieder rechteckig ausgeschnitten. So ergibt sich ein interessantes Wech- selspiel der Linienführung, dessen dezenter, unaufdringlicher Charak- ter sich auch in der Farbgebung des Raumes wiederfindet: neben dem Weiß der Südwestwand und dem Hellgrau der Bodenfliesen erscheint das dunklere Grau des Sichtbetons an den Rundpfeiler, Geschoßränder und -decken, aber auch helles Buchenholz (rückwärtige Schrankwände im Osten und Westen, Handläufe der Geländer) und nicht zuletzt die wechselnde, von Witterung, Jahres- und Tageszeit geprägte Färbung des Himmels über dem Glasdach.

          Es ist maßgeblich diese Glasverdachung, die den Besucher vom Eingang her immer weiter in das Gebäude hineinzieht. Je weiter er in den Innenhof vordringt, desto mehr öffnet sich dessen spitze Drei- ecksfläche und desto mehr Licht fällt von oben ein. Und naturgemäß steigt dann die Helligkeit zusätzlich in dem Maße, wie der Besucher die Treppe nach oben erklimmt. Dieser Effekt wird noch verstärkt, indem sich die Glasdächer im Norden und Osten weiter erstrecken als die Grundfläche des Innenhofes ausmacht: im Norden überfangen sie auch die Galerie des dritten Obergeschosses und im Osten sogar dessen gesamten zum Innenhof hin offenen Bereich. Sie reichen also bis an die Kanten des L-förmigen Gebäuderückrates heran. Je weiter der Be- sucher nach oben steigt, desto mehr Glasflächen des Daches werden ihm sichtbar.

          Das Interessanteste an der großen Eingangshalle der Bibliothek sind jedoch die vielfältigen Blickbeziehungen, die sich nicht nur innerhalb der ausgedehnten Räume, sondern auch über die Stock- werksgrenzen hinweg ergeben – ein Merkmal, das uns später in den Lesesälen wiederbegegnen wird. Nicht nur bietet die lange, den ge- mauerten Mittelschächten vorgelagerte Treppe einen ständigen Blickkontakt nach unten in die Halle; der Blick geht noch weiter herunter bis in das vielfach geöffnete Garderobengeschoß – oder aber weiter nach oben bis zum Bibliothekarsbereich im dritten Obergeschoß. Sämtliche anderen Seiten des Innenhofes sind, auf allen Etagen, von diesem aus einsehbar. So erblickt der Eintretende hinter den offenen Geländern nicht nur die an den vordersten Tischen des Lesesaals Lernenden, sondern auf der anderen Seite, im obersten Stockwerk etwa, die Mitarbeiter der Bibliothek bei der Arbeit. Gleichzeitig findet vielleicht eine Tagung in den verglasten Konferenzräumen des ersten Obergeschosses, auf der Nordseite des Innenhofs statt, von der Treppe aus ebenfalls zu beobachten. Und ein weiterer Durchblick entsteht zwischen der Eingangshalle und dem Innern der verglasten Rotunde: sie verschneidet sich mit der Halle nicht nur, wie wir gesehen haben, im Bereich der Eingangstüren und des Windfangs, sondern auch in drei Obergeschossen, von deren Café-Tischen aus man durch das Glas direkt in die Halle hinuntersehen kann.

 

 

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