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IX. Der Eingangsbereich
Westlich des verglasten Flurschachtes setzt sich die steinplattenver- kleideten Südfassade nur noch mit einem schmalen vertikalen und fen- sterlosen Fassadenstreifen fort. Dieser Teil scheint vor allem stützen- de Funktion zu haben, denn aus ihm heraus ragt die Ostseite des längsten, sich am weitesten nach Süden vorschiebenden Lesesaalfin- gers. Sowohl die Plattenfassade als auch seinen verglasten Erdge- schoßbereich läßt der aufgeständerte Bauteil weit hinter sich, seine vordere Spitze liegt etwa 12 Meter weiter südlich. Tatsächlich kann der Besucher, der zuvor noch einmal über das Geländer hinweg in die kreisförmige Öffnung des Posthofs hinuntergeblickt hat, aus der der einzelne, große Baum emporwächst, unter diesem Finger hindurch- gehen, auf dem Rasenstück, das den Beginn der südwestlichen Park- landschaft markiert. Zwar weisen die Finger auf ihren Ost- und West- seiten auch einige geschlossene Mauerpartien auf, die mit horizontal strukturiertem Wellblech aus Leichtmetall verkleidet sind und nur sporadisch kleine Fensteröffnungen zeigen, die überwiegenden Partien aber, und auch fast die gesamten Südseiten, sind verglast. Der Besucher blickt sich noch einmal um, denn plötzlich fällt ihm auf, daß die Rollos vor den Scheiben wieder geöffnet sind – dank einiger Wolken am Himmel, die den Automatismus des Hochfahrens ausgelöst haben. Und so läßt sich, über die Köpfe der Studenten hinweg, die am unteren Rand des Fingers, im ersten Obergeschoß, entlang der großen Scheiben sichtbar sind und verwundert zu ihm herunterschauen, durch die verglaste Struktur hindurchsehen. Indem der Besucher die schlanken Betonpfeiler, die die Struktur über dem Parkrasen halten, im Innenraum hinter den großen Glasflächen weiterverfolgt, erkennt er, daß diese bis zu einem Dach hochlaufen, das den exponierten Raum erst etwa 10 Meter über den Köpfen der an den Fenstern Arbeitenden abschließt.
Der Besucher kann es jetzt kaum noch erwarten, diese Räume von innen zu erleben, und so durchschreitet er schnellen Schrittes den nach Westen hin abfallenden Park, mit seinen herumliegenden Stein- quadern und den einzelnen großen Bäumen und Büschen, deren Blatt- werk sich gerade erst frühlingshaft entfaltet hat.
Der Bereich vor dem Eingang der Staats- und Universitätsbibliothek hat sich – neben der großen Halle des Zentralen Hörsaalgebäudes und dem Mensafoyer – zum dritten großen Verkehrsknotenpunkt auf dem Campus des Geisteswissenschaftlichen Zentrums entwickelt. Am (von der Mensa aus gesehen) anderen Ende der zierkirschenbestandene Promenade gelegen, aber auch an jener nicht minder frequentierten Fußgänger- und Radfahrverbindung, die der Besucher schon kennen- gelernt hat und die von der Altstadt kommend diagonal über das Forum nach Nordosten verläuft, stellt die Eingangsrotunde nicht nur einen all- seitigen Blickfang dar, sondern markiert auch einen Punkt, an dem sich viele Wege kreuzen und noch mehr Wege enden: zu erkennen an den Unmengen von abgestellten Fahrrädern, die hier zu den Stoßzeiten so stark anschwellen und die lebenswichtigen Verkehrsadern verengen können, daß die unvermeidlichen Symptome eines Infarktes entstehen. Dazu kommt, daß sich hier, vor der Rotunde, auch so manche Wege trennen: und zwar zwischen denjenigen, die jetzt noch „was tun müssen“, jenen anderen, die „Schluß machen für heute“ und denen, die noch immer unentschlossen sind, weil sie sich lieber „spontan“ ent- scheiden. So finden denn hier am frühen Nachmittag – grundsätzlich mitten auf der Kreuzung besagter Verkehrswege – eine Vielzahl von kleineren und größeren Abschiedsszenen statt, die, ungeachtet der durch sie zusätzlich hervorgerufenen Stauungen und selbst noch bei extrem ungünstiger Witterung, beträchtliche zeitliche Ausmaße anneh- men können. Wenigstens aber sind sie – bedenkt man die vielen Na- tionen, aus denen ihre Protagonisten herstammen und die den Formen- und Gestenreichtum dieser Abschiede ausmachen – nicht selten von so unbestreitbar theatralischer Qualität, daß ihnen selbst die notori- schen Handy-Benutzer, die, wie die Raucher – denn beide Gruppen werden in den Lesesälen nicht gern gesehen –, diesen Freiraum vor den Türen der Bibliothek nutzen, die allgemeine Aufmerksamkeit nicht streitig machen können.
Vergönnt ist die Beobachtung dieses sich in immer neuen Variationen wiederholenden Schauspiels denjenigen, die sich einen Platz auf einem der Ränge des Rotunden-Cafés gesichert haben; aber da wir selbst zu denjenigen gehören, die noch „was tun müssen“, verschieben wir den, wie wir noch sehen werden, wundersamen Aufstieg in den verglasten Café-Zylinder auf einen späteren Zeitpunkt und wenden uns statt dessen zuerst dem Inneren des Hauptgebäudes zu.
In die verglasten Schnittflächen zwischen dem rechtwinkligen Gebäu- dekern und dem Laubengang im Erdgeschoß der Rotunde sind zwei Drehtüren eingelassen, eine auf jeder Seite. Sie führen in einen klein- en Windfang, der dem innenliegenden Viertel des Rotundenlaufgangs entspricht. Von hier aus öffnet sich einerseits ein Zugang ins Innere des auch hier mit Betonsteinen verkleideten Rotundenkerns; dieser ent- puppt sich dabei als Wendeltreppe, die sowohl nach oben, in die Café- etagen, als auch nach unten führt, zu den Garderobenschränken. In die entgegengesetzte Richtung gibt die verglaste Außenfront der Rotunde – als eine hier im Innern des Gebäudes liegende Schnittfläche – den Blick in eine große Eingangshalle frei. Vier einfache Türen öffnen das gläserne Zylindersegment in die Halle hinein.
Wer nun aber, als unbedarfter Besucher, die Geschehnisse in diesem Windfang verstehen will, der muß mit den Gesetzen der Strömungslehre vertraut sein. Besagen diese doch, daß die Ge- schwindigkeit – bei konstanter Durchflußmenge – um so größer wird, je enger der Durchlaß. Das Nadelöhr im Eingangsbereich der SUB bilden aber nun sicherlich die beiden Drehtüren, ermöglichen sie doch jede nur die Benutzung durch höchstens vier Personen gleichzeitig. Jedweder Versuch, die Durchflußmenge dadurch zu steigern, daß man sich zu zweit ein Kompartiment der Drehtür teilt, sind zum Scheitern verurteilt und führen zur Blockade des Systems insgesamt, wie immer wieder einmal das eine oder andere Studentenduo feststellen muß. Doch auch die Benutzung der Tür durch vier Personen gleichzeitig setzt, angesichts der schmalen Zu- und Ausgänge, schon eine Glanzleistung sozialer Koordination und individueller Körperbeherr- schung voraus und gelingt nur in Ausnahmefällen. Was also bleibt anderes übrig, als die Rotationsgeschwindigkeit der Türen so weit zu erhöhen, daß sich die Warteschlangen vor und hinter ihnen zumindest nicht verlängern? Sicher, es erfordert einige Übung, sein Kompartiment im schnellen Trippelschritt zu durchlaufen, wenn der Hintermann energisch nachdrückt. Und auch beim Austritt zeigt sich nicht immer sofort die Lücke zwischen den hier ihrerseits Wartenden hindurch; nicht selten endet der Lauf, der gut begonnen hatte, dann im Zusam- menprall mit einem hohen, kunstvoll aufgeschichteten Bücherstapel, der die Bibliothek soeben verlassen wollte, nun aber durch unsere Unachtsamkeit in eine gefährliche Schieflage gerät.
Im glücklicheren Fall einer freien Bahn jedoch reicht das in der Drehtür gewonnene Moment aus, um die enge Atmosphäre des Windfangs zu durchstoßen und sie – durch eine der Türen im äußeren Glaszylinder –wieder zu verlassen, um, einer Weltraumsonde gleich, in die Weiten des sich auftuenden Hallenraumes vorzustoßen. Je nach dem Schwung, den sich der Besucher, entsprechend seiner eigenen Dynamik oder derjenigen seines Nachfolgers, in der Drehtür geholt hat und abhängig auch von dem spezifischen Austrittspunkt durch die Türen im äußeren Glaszylinder, verlaufen seine Wege im Innern der Halle auf unterschiedlichen Bahnen. Der Neuling wird bald an der nicht weit vom Eingang entfernt gelegenen Info-Theke anstranden. Die Geübteren dagegen lassen sich in die verschiedenen weiter entfernt gelegenen Regionen treiben, zu den Katalog-Terminals etwa, zur Lehrbuchsammlung oder zur Buchrückgabe. Und die Professionellen, die sich auf eine längere Verweildauer in diesem interessanten, ja abenteuerlichen Kosmos eingestellt haben, nutzen den einmal gewon- nenen Impuls, um in einem einzigen Zug die breite Treppe zu errei- chen, die in der Mitte der Halle zu den Garderobeschränken hinunter- führt. Die V-förmige Anlage der Eingangshalle, die sich in einem Winkel von etwa 60 Grad von der Rotunde aus öffnet, ermöglicht es tatsächlich, fast alle Ziele auf gerader Flugbahn zu erreichen.
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