I.1. Das verborgene Wachstum der Knospen
Im Februar des Jahres 1888 entschließt sich der Niederländer Vincent van Gogh, der die Jahre zuvor in Paris gelebt hat, in den Süden aufzu- brechen, nach „Japan", wie er es nennt. Der Fünfunddreißigjährige reist mit dem Zug nach Arles, wo er, kaum ein Quartier genommen, mit dem Malen der provenzalischen Landschaft und ihrer Menschen beginnt.
Schon immer hat van Gogh gerne gezeichnet, aber erst seit sieben Jahren malt er in Öl, nachdem er den Entschluß gefaßt hat, Maler zu werden. Mit sechzehn Jahren ist er in den Dienst eines international tätigen Kunsthändlers getreten, hat für ihn zuerst in Den Haag, dann in London und Paris gearbeitet, bis er mit dreiundzwanzig Jahren entlassen wird, ein Einzelgänger, ein Sonderling, der am lieb- sten in der Bibel liest, zum Verkäufer ungeeignet.
Als Vincent zu malen beginnt, lebt er wieder in seinem holländischen Heimatland. Eine akademische Ausbildung hat er nie erhalten. Überwiegend im Selbststudium erlernt er seine Kunst, Anleitung gibt ihm allenfalls sein Mentor Anton Mauve, ein angeheira- teter Verwandter und bekannter Maler in Den Haag. Zwar zeichnet und malt Vincent mit Vorliebe die Natur und die Menschen, die in ihr leben und arbeiten. Aber er hat in seinen vorangegangenen Jahren als Hilfsprediger einer kirchlichen Vereinigung auch das Elend der Grubenarbeiter in den belgischen Kohlerevieren kennengelernt, und so sind auch diese Arbeiter zu seinen Motiven geworden. Ja, mit dem Blick auf sie ist der Entschluß, Maler zu werden, gereift: angesichts der unüberbrückbaren Kluft zwischen kirchlichem Anspruch einerseits und der sozialen Wirklichkeit andererseits muß er das Scheitern seines missionarischen Versuchs erkennen. Aus Solidarität mit ihnen, aus wirklichem Mitgefühl heraus hat Vincent das Leben der Grubenarbeiter mitleben, hat sich auf ihre Stufe begeben wollen, anstatt ihnen, wie es die Kirche von ihm fordert, von der Kanzel aus wohlmeinende Ratschläge zu erteilen, wie sie ihr erbärmliches Los meistern sollen. In ärmlichen Kleidern herumzulaufen wie die Arbeiter selbst, an die er einen Großteil seiner ursprünglichen verschenkt hat, hält die Kirche für unschicklich und trennt sich von ihm.
So beginnt der Niederländer nun, karge, düstere Interieurs mit dem Pinsel festzuhalten, deren Bewohner, wie zum Beispiel in den berühmten Kartoffelessern von 1885, Demut, Milde, Liebe und Solida- rität untereinander ausstrahlen. Van Gogh malt die Arbeiter in ihren dunklen Behausungen, nicht in irgendeinem lichten Atelier, und so gelangt er zu jener derben, zutreffenden Schlichtheit des Ausdrucks, die keinen Raum läßt für Künstlichkeit und Sentimentalität. Nebenbei liest er die naturalistischen Romane Emile Zolas, die die bedrückende soziale Wirklichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts in all ihren Facetten und aller Deutlichkeit wiedergeben.
Zurückgekehrt zu der nicht minder harten und einfachen Welt der holländischen Bauern des späten 19. Jahrhunderts wird der französi- sche Maler Jean-François Millet (1814-1875) zu seinem Vorbild und einer Quelle der Inspiration. Bis an sein Lebensende wird Vincent van Gogh immer wieder diese Bilder von den bescheidenen, gottesfürchti- gen Landarbeitern kopieren, abwandeln und zitieren, wie es so viele andere seiner Malerkollegen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein tun; erwähnt sei als Beispiel nur Salvador Dalís Der Bahnhof von Perpignan von 1965.
Im Februar 1886, genau zwei Jahre vor Vincents Abreise nach Arles, holt ihn sein vier Jahre jüngerer Bruder Theo, der nun seinerseits als Kunsthändler bei jenem Goupil arbeitet, für den auch Vincent früher tätig war, zu sich nach Paris. Seit Beginn der malerischen Beschäfti- gung seines Bruders hat Theo diesen nicht nur finanziell unterstützt, sondern auch in dem Briefwechsel der beiden kontinuierlich begleitet und immer wieder ermutigt, der bis zu Vincents Selbstmord im Jahre 1890 fortbestehen soll und uns heute in einzigartiger Weise die Ent- wicklung der Gedanken, Gefühle und Ideen des Malers offenbart. Nun findet Vincent in der Wohnung des Bruders Raum zum Leben und Malen. Teils durch Vermittlung des Bruders, teils aus eigener Initiative heraus lernt Vincent, ein intellektuell interessierter und reger Mensch, der Französisch, Deutsch und Englisch gelernt hat, für ein einmal geplantes Theologiestudium sogar Latein und Griechisch, die impres- sionistischen Maler kennen und ist von ihrer neuartigen Widergabe der Natur und des Lichts begeistert.
Zu jener Zeit aber, als van Gogh den Impressionismus kennen- lernt, sind in Paris, bei den avantgardistischen Malern, bereits die japanischen Farbholzschnitte in Mode gekommen. In ihrer für die euro- päische Kunsttradition ungewohnten Gestaltungsweise und Farbge- bung kündigen sich, nicht nur für Vincents malerisches Auge, ganz neue Möglichkeiten der Wirklichkeitsdarstellung an, die schließlich den Impressionismus überwinden und den Weg hinüber in die Moderne des 20. Jahrhunderts bahnen sollen.
Vincent van Gogh, der zu dieser Entwicklung, die für die Ge- schichte der europäischen Malerei bahnbrechend ist, einen ganz ent- scheidenden, wenn nicht sogar den größten Beitrag geleistet hat, zeigt uns selbst seine Sicht dieser Farbholzschnitte. Wenige Monate vor seinem Aufbruch in die Provence malt er 1887 den Kunsthändler und Freund Père Tanguy, wie er vor einer Wand sitzt, die über und über mit den japanischen Bildern behängt ist. Die großen, derben, verlegen zu- sammengelegten Hände des Kunsthändlers, die Ruhe, die seine fron- tale Körperhaltung und die Sanftheit, die sein Gesicht aussprechen, die flimmernde, gestrichelte Pinselführung, mit der van Gogh Jackett und Hose wiedergibt, die Flächigkeit des Bildes ohne jegliche perspektivi- sche Tiefe und vor allem die begeisternde Farbigkeit nehmen einige Charakteristika vorweg, die uns heute als die Markenzeichen des nie- derländischen Malers der provenzalischen Sonne erscheinen.
In Arles, in der kurzen Zeitspanne von Februar 1888 bis April 1889, erreicht Vincent van Gogh in einem atemberaubenden, beinahe explosionsartigen Schaffensprozeß den Höhepunkt seiner Kunst. Von der Welt zur Kenntnis genommen wird dieses malerische Werk aber erst nach seinem Tode.
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