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Nicht nur in seiner Zeit als Missionar für eine kirchliche Vereinigung, auch als Maler ist Vincent van Gogh ein durch und durch religiöser Mensch. Es geht ihm in seinen Bildern nicht um den schönen Schein, um ein leeres L'art pourt l'art, einen interessanten Zeitvertreib, der an der Oberfläche der Dinge verhaftet bleibt und, schnell von ihnen gelangweilt, ihnen verkrampft immer neue, subtilere Reize abzuge- winnen sucht. Aber ebensowenig ist er ein abstrakter Symbolist, der versucht, komplizierte gedankliche Konstrukte oder Utopien in einer noch komplizierteren Bildersprache zu verschlüsseln. Vincent van Gogh geht es um das Wesen der Menschen und der Dinge, der Welt um ihn herum. Aber dieses Wesen ist für ihn etwas Einfaches, Faßbares, klar Gegebenes: es liegt in der sinnlichen Gegenwart, der Präsenz der Phänomene selbst, wie flüchtig sie auch immer sein mögen. Aber so gegenwärtig, so lebendig dieses Wesen der Dinge dem Maler in jedem Augenblick auch ist, so schwer fällt es ihm, es jemand anderem mitzuteilen. Deshalb malt er, um es wenigstens anzudeuten, um zumindest denjenigen, der dafür sensibel ist, mit seinem stummen Pinsel auf das Unaussprechliche hinzuweisen. Das Wesen, die Seele, Gott oder wie immer man es nennt, liegt in den Dingen selbst, in allen Dingen, in jedem Ding; aber die Herausforderung für den Menschen ist, es darin unmittelbar zu erkennen, es als etwas Wirkliches wahrzu- nehmen. Vincents Art zu malen geht von dieser Erkenntnis aus: er malt so gut wie immer nach dem konkreten, realen Motiv, sei es eine Landschaft, ein Mensch, der ihm gegenübersitzt, oder auch einfach der nächtliche Sternenhimmel; aber dann nimmt er sich die Freiheit, das, was er in der sinnlichen Wirklichkeit gesehen hat, im Bild so umzugestalten, daß es sein Wesen dem Betrachter unmittelbar faßlich macht. In diesem Sinne ist der Künstler, so wie ihn van Gogh versteht, nicht nur ein religiöser Mensch, sondern ein religiöser Lehrer. Er bemüht sich, das Wesen, die Seele, die er in den Dingen und Menschen wahrnimmt, auch denen erkennbar zu machen, die sie noch nicht klar sehen, sondern vielleicht nur erahnen. Vincent weiß sich damit einer großartigen Aufgabe verschrieben, doch er glaubt sie nicht allein bewältigen zu können. Das Zusammenwirken vieler Gleichge- sinnter scheint ihm erforderlich, um diesem seinem Wissen um die einfache Gegenwart und Wahrnehmbarkeit des Göttlichen in allen Dingen, um das damit verbundene Glücksempfinden und Einssein mit Allem in dieser Welt zum Durchbruch, zur allgemeinen Erkenntnis zu verhelfen. Deshalb sind seine zahlreichen Andeutungen, die das Klösterliche seiner geplanten Künstlergemeinschaft betonen, durchaus vor einem ernstgemeinten Hintergrund zu verstehen.
Vincent hat im September den belgischen Maler und Dichter Eugène Boch kennengelernt, der sich vorübergehend in Arles aufhält. Der schmächtige und zurückhaltende Mann ist dem Holländer sehr sympathisch, er erkennt in ihm einen Seelenverwandten. Wie der Plan für das Portrait reift, bezeugen Vincents Briefe, und kurz vor dessen Abreise sitzt der Belgier ihm Modell, sehr ausdauernd und konzentriert. Was dabei entsteht, ist nicht nur das Portrait des Belgiers Eugène Boch, nicht nur das Portrait eines Freundes. Vincent ist das Bild so teuer, daß er es über seinem Bett aufhängt, neben dem Portrait des Zuavenleutnants Milliet. Man kann das auf dem berühmten Gemälde sehen, das der Maler einen Monat später von seinem Schlafzimmer im Gelben Haus anfertigen wird.
Das Portrait des belgischen Dichters gehört zu den wenigen Exemplaren seiner Gattung, bei denen der Blick des Betrachters zuerst auf den Hintergrund, und nicht auf den eigentlich Portraitierten fällt: es ist ein in tiefem Ultramarin leuchtender Sternenhimmel. Rechts oben in der Ecke ist ein besonders heller Stern zu sehen, dessen goldgelb leuchtender Körper von weißen, radial ausgehenden Strahlen umrahmt wird. Aber der Maler hat hier keinen Astronomen vor den Objekten seiner wissenschaftlichen Untersuchung posiert, sondern einen Künstler. Dieser erkennt die Welt nicht minder gut, aber mit einem ganz anderen Wahrnehmungsorgan: seiner Seele.
Die Kopfform Bochs ist knochig, hager, was durch seine ganz kurz geschnittenen, anliegenden Haare noch mehr zur Geltung kommt. Asketisch wirkt der Mann, der vielleicht so alt ist wie sein Freund, mit dem blonden Bart um die eingefallenen Wangen. Das spitze Kinn wird von den beiden kurzen Bartenden verdeckt. Die starke, etwas konvex gewölbte Nase verleiht ihm einen jüdischen Zug. Vincent malt den Freund mit leicht dem linken Bildrand zugewandten Gesicht. Aber der Belgier blickt aus diesem Winkel den Betrachter an, ernst, konzentriert, zugleich entspannt, jeden Moment bereit, zu lächeln.
Der belgische Künstler trägt eine ockerfarbene Jacke, zuge- knöpft, an den schmalen Schultern diagonal abfallend. Farblich ent- spricht sie nicht nur der Tönung des Kinn- und des Oberlippen- bartes, sondern auch der Hautpartien unterhalb der Augen und um die Backen- knochen herum. Vor allem aber hat der Maler in derselben, hellen Farbe eine Konturlinie um die Rundung des Schädels gezogen, das Dunkel der kurzen Haare vom Dunkel des Himmels abgrenzend. Diese halbrunde Linie ist es, die an dem Portrait am meisten auffällt und verwundert. Die Assoziation zu einem Heiligenschein liefert der Maler in seinen Briefen selbst.
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