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II.3. Der Bauerngarten
Im Verlauf des Sommers 1888 macht van Gogh in Arles die Bekannt- schaft von mehr Menschen, einfachen Leuten zumeist, und diese zeigen dem Maler, was er bisher auf seinen Erkundungsgängen durch das Umland noch nicht entdeckt hat. So lernt er die Bauerngärten kennen, die, versteckt und windgeschützt, hinter den kleinen, einzeln- stehenden Gehöften liegen. Van Gogh verliebt sich sogleich in das neue Sujet, und seine intensive Zuneigung zu dem, was er sieht, seine bedingungslose Hingabe an dieses neue Thema ermöglichen ihm, auf dem Weg, den die Entwicklung seiner ganz persönlichen und neuarti- gen Malweise nimmt, einen weiteren Fortschritt zu machen.
Was Vincent in diesen Bauerngärten findet, hat er wie immer in seinen beinahe täglichen Briefen an den Bruder Theo, aber auch an seine Schwester Wil oder an seine Malerfreunde formuliert. Aber den besten Eindruck davon gewinnt man bei der Betrachtung jenes Blumengartens, der heute im New Yorker Metropolitan Museum of Art hängt, einem hochformatigen Bild von beträchtlicher Größe. In der Art einer Weitwinkelperspektive, die, wie so oft bei van Gogh, vom Boden unmittelbar vor dem Betrachter bis zum Himmel reicht, zeigt es einen wahren Blumenteppich, in den verschiedensten, hell leuchtenden Farben. Sowohl seitlich, am rechten oberen Bildrand, als auch hinten, den Horizont verdeckend, ist der Garten durch Steinhäuser einge- grenzt. Es entsteht eine Atmosphäre des Abgeschirmten, Behüteten, ganz anders als bei den Bildern, die van Gogh draußen in der freien Landschaft gemalt hat. Fast der Charakter einer Patio wird hier evoziert, eines von Blumen, blühenden Sträuchern und Bäumen überwucherten, allseits von steinernen Mauern umgebenen Bezirks, der jedoch nicht minder vom Sonnenlicht profitiert als die Felder außerhalb.
Konsequenterweise hat der Maler die „Kamera“ weit nach unten geschwenkt, vom Himmel ist nur am linken oberen Bildrand etwas zu sehen. Seine Farbe ist wenig aufdringlich, das stumpfe, wenn auch nicht dunkle Blaugrün fällt gegenüber dem farbenfrohen Innenleben des Gartens nur unwesentlich ins Auge.
Auch von den eingrenzenden Häusern ist nicht viel hinter dem Blumen- und Pflanzenmeer zu sehen, gerade genug, um die lauschige Stimmung eines allseits abgeschlossenen Gartens entstehen zu lassen und in dem so erzeugten Gefühl von Geborgenheit den Blick des Betrachters ganz auf den Vordergrund zu lenken, auf die Fülle der kleinen Dinge und Phänomene, die ihn beleben.
In seinen Briefen, in denen van Gogh das neu geschaffene Bild beschreibt, zählt er all die verschiedenen Blumen auf, die auf ihm zu sehen sind: roter Mohn, blaue Glockenblumen, orangefarbene und gelbe Tagetes, lilafarbene Skabiosen, rote Geranien, purpurne Dahlien, goldgelbe Sonnenblumen neben grünblättrigem Wein, im Hintergrund Oleander, Feigenbaum und Zypressen. Er fügt sogar eine kleine Zeichnung bei, auf der er die verschiedenen Blumenfelder des Bildes benennt. Und dennoch: bis auf die Sonnenblumen, die am rechten Bildrand vor dem steinernen Wohnhaus stehen und dem Betrachter ihre runden Gesichter zuwenden wie eine Gruppe neugieriger Bewohner, lassen sich keine der Pflanzen auf dem Bild eindeutig identifizieren. Die Blüten der Blumen sind nicht naturalistisch gezeichnet, sondern nur als Farbtupfer wiedergegeben, die sich, entsprechend der verschiedenen Gattungen, voneinander durch Farbe, Größe und Strichführung unter- scheiden.
Aber wenn dieses getupfte Meer auf den ersten Blick einen impressionistischen Eindruck macht, so verfliegt dieser bald wieder, angesichts der Expressivität der verwendeten Farben. In diesem Bau- erngarten wird nicht Licht dargestellt, Schattierungen, Spiegelungen, Reflexe oder eine mit Händen greifbare Konsistenz der Luft, sondern hier werden Farben auf einer Fläche angeordnet, oftmals reine Spektralfarben und in starken Kontrasten. Das Rot des Mohns, links im Vordergrund des Bildes, ist in dicken Flecken auf einen olivgrünen, in breiten, senkrechten Strichen strukturierten Hintergrund gesetzt; zur Bildmitte hin fließt dieses Feld in ein System von kleinen, violetten (Blüten) und orangebraunen (Stielen) Stricheln über, die, zentrifugal von einem Mittelpunkt ausgehend, ein kugelartiges Gewächs darstellen. Über (räumlich gesehen: hinter) beiden liegt ein eher bescheidenes, wellenförmiges Band von kleinen, rosafarbenen, diesmal flachovalen Tupfern, niedrigen Blumen wohl, die sich angesichts der dominieren- den Konkurrenz nicht so recht zu entfalten vermögen. Die roten Tupfer links außen, oberhalb der Mohnblüten, sind bedeutend kleiner als diese, zudem als diagonale, zur Bildmitte hin gerichtete Striche zu sehen, auf einem diesmal viel helleren, ockergrünen Hintergrund der Stengel aufgetragen. Die blauen Blumen darüber, die sich quer über die gesamte Bildbreite ausbreiten, variieren offenbar in der Farbe, sind in drei verschiedenen, voneinander relativ klar abgegrenzten Töne zu sehen, auf der rechten Seite sogar in einer ganz weißen Abart. Die Farbtupfer verschwimmen hier bisweilen, fügen sich zu netzartigen Strukturen zusammen, die sich, je nach Blauton, überlagern. An zwei Stellen wirkt die Farbe wie hingekleckst, wie direkt aus der Tube auf die Leinwand gedrückt und anschließen mit dem Pinsel verrührt.
Und auch die Darstellung der Weinstöcke im rechten Vorder- grund des Bildes hat nichts mehr mit dem Impressionismus gemein. In stark abstrahierender Weise hat der Maler auf einen unstrukturierten, dunkelgrünen Hintergrund schwarze, blauviolette und orangefarbene Umrisse von immer derselben Form gezeichnet, die an chinesische Schriftzeichen erinnern und die mit ihren rechten Winkeln nur ganz schematisch auf die Gestalt eines Weinblattes verweisen, die Assozia- tion vom Funkeln erster reifer Trauben und von schon vereinzeltem Welken aber zielsicher erwecken. Der ganze Verlauf der Saison scheint in diesem einen Bild des Bauerngartens zusammengedrängt: von der Blumenpracht des Frühlings über das dunkle Grün des Sommers bis zu den Erntefreuden des Herbstes ist alles gleichzeitig zugegen.
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