Pisa © Roland Salz 2000 - 2015
Roland Salz                                                                      
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Vincent beim Malen von Sonnenblumen

Paul Gauguin, 1888

Gauguin Vincent beim Malen von Sonnenblumen

IV.3. Sonnenblumen in einer Vase

 

Vincent van Gogh hat im Sommer ein kleines Haus an der Place Lamartine angemietet, in dem er sein Atelier einrichtet und die fertig- gestellten Bilder lagert. Aber das Haus ist zu renovierungsbedürftig, als daß der Maler darin auch wohnen könnte, und zum Renovieren fehlt ihm das Geld. Dennoch möchte er, jetzt, wo er angesichts der Hitze vermehrt darin malt, seine Arbeitsstätte verschönern. Auch trägt er sich mit dem Gedanken, den er in seinen Briefen an den Bruder immer wieder äußert, in diesem Haus eine Art von Künstlerkolonie, eine „Werkstatt des Südens“ zu gründen. Der von Vincent verehrte Maler Paul Gauguin soll der erste der Gäste sein und wird von ihm nach Arles eingeladen, um hier in kreativer Gemeinschaft mit dem Holländer zu arbeiten. Aber Gauguin zeigt sich nur mäßig begeistert von der Idee, verweist im übrigen darauf, kein Geld für die Fahrt von Pont-Aven in der Bretagne, wo er sich derzeit aufhält, krank und in bitterer Not, hinunter in die Provence zu haben. Aber van Gogh geht die Idee nicht aus dem Kopf, und immer wieder überlegt er, wie er den von ihm bewunderten Kollegen doch noch zum Herkommen bewegen kann, um, wie er es sich vorstellt, zusammen mit ihm ein neues Kapitel in der Malerei und der Kunst aufzuschlagen. In Anbetracht der langen Zeit, die er nun schon allein in Arles verbracht hat, träumt Vincent von Freundschaft, von Gemeinschaft mit dem Geistverwandten, wie er meint.

          Vielleicht ist es dieser Traum, der van Gogh beflügelt, denn in den Sommermonaten August und September 1888, also bevor Gauguin eintrifft, schafft der Maler die großartigsten Bilder seines Lebens. Vielleicht ist es aber auch, daß er sich der eigenen Freude und Erfüllung, die ihn bei seiner malerische Produktivität und Kreativität in dieser südlichen, „japanischen“ Landschaft ergriffen hat, nicht ganz bewußt wird. Vielleicht hindert ihn nur die noch immer ausbleibende Anerkennung seines Malens durch die Kritik und der noch immer ausbleibende finanzielle Erfolg daran, zu erkennen, daß er hier eigentlich alles gefunden hat, was er zu seinem Glück braucht. Im Sommer gewinnt Vincent vermehrt Freunde unter den Einheimischen, wie etwa den Zuavenleutnant Milliet, und unter den wenigen anderen Künstlern und Intellektuellen, die sich in Arles aufhalten. Endlich findet er genügend Modelle für seine Portraits. Und endlich traut er sich auch, in der Stadt selbst, umringt von den Menschen, zu malen, keine Sehenswürdigkeiten, sondern schlichte Szenen einfacher, körperlicher Arbeit, die es auch hier gibt. Vielleicht projiziert Vincent diese ureigene, tief in seinem Innern empfundene Freude auf den Traum von der Künstlergemeinschaft, um sie sich bewußt machen und mit anderen zusammen erleben zu können.

          Ende August faßt der Maler die Idee, sein Atelier auszu- schmücken mit den einfachen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen: mit Bildern. Wenn Gauguin eintrifft, dann sollen zwölf große Gemälde mit nichts als Sonnenblumen – in verschiedenen Anordnungen, mit verschiedenen Farben als Hintergrund – das Haus, die herunterge- kommenen, verwahrlosten Innenräume aufhellen. Wie die Japaner die Räume ihrer Häuser mit den Farbholzschnitten dekorieren, die damit aus der Sphäre der reinen Kunst in den Bereich des alltäglichen Lebens hinüberwechseln, so sollen umgekehrt die Sonnenblumen das Haus der zukünftigen Künstlergemeinschaft selbst in ein Kunstobjekt transformieren.

          Schließlich wird der Maler nur vier Leinwände mit Sonnenblumen schaffen, aber diese gehören heute zu den bekanntesten, beliebtesten und künstlerisch innovativsten seiner Schöpfungen. Mit den Sonnenblumen schafft der Maler den Inbegriff dessen, was er in der Provence und vielleicht in seinem ganzen Leben gesucht hat; und in ihnen verkörpert sich der Mythos des Vincent van Gogh, so wie ihn seine Zeitgenossen und die Nachwelt entwickeln sollten. Vincent beim Malen von Sonnenblumen ist der Titel eines Bildes, das Paul Gauguin im November 1888 in Arles, in van Goghs Gelbem Haus, malt. Ein verschroben wirkender, ganz in seine Arbeit vertiefter Mann sitzt, in brauner Joppe, mit roten Haaren und kurzgeschnittenem, roten Bart, vor seiner Staffelei. In der rechten Bildhälfte postiert, sich diagonal zurücklehnend, reckt sich der Körper des Malers beinahe über den rechten Bildrand hinaus. Der Hinterkopf des Portraitierten ist vom Bildrand abgeschnitten, genauso wie seine linke Schulter.

          Links im Bild steht ein großer Strauß Sonnenblumen in einer dunkelblauen Keramikvase. Und so wie sich der Maler zurücklehnt, den feinen Pinsel mit dem ausgestreckten Arm führend, um besser zu sehen mit dem malerischen Auge, so neigen sich die Sonnenblumen in die entgegengesetzte Richtung, nach links. Sie scheinen ihm entfliehen zu wollen, und sie tun es, indem sie zu verwelken drohen, noch bevor der Maler ihr Portrait beendet hat. Es ist ein Kampf zwischen den handwerklichen Fähigkeiten und der geistigen Konzentration des Malers einerseits, und der Vergänglichkeit, der Flüchtigkeit der Natur und ihrer Phänomene andererseits. Es ist der Kampf, dem sich van Gogh seit seiner Ankunft in Arles verschrieben hat, und dem er alles zu opfern bereit ist.

          Zwölf Sonnenblumen in einer Vase ist der Titel eines der vier Blumenstücke van Goghs, die bei Gauguins Ankunft in Arles die Zimmer des Gelben Hauses schmückten. Zusammen mit dem anderen großformatigen Bild, den Vierzehn Sonnenblumen in einer Vase, hatte Vincent es in dem Zimmer aufgehängt, das er Gauguin nicht nur zugedacht, sondern für ihn, von seinem spärlichen, immer noch ausschließlich von seinem Bruder Theo stammenden Geld, komplett eingerichtet hatte, mit Bett, Stuhl und Tisch.

          Zwölf Sonnenblumen stehen in einer Vase aus Steingut vor einem Hintergrund aus hellem Veroneser Grün, der völlig gegen- standslos bleibt. Die Vase und die Sonnenblumen haben annähernd natürliche Größe, was angesichts eines Leinwandformats von 91 x 73 cm möglich ist. Die Vase steht auf einem Tisch, von dem nur die Platte zu sehen ist, die in sehr schematischer und statischer Weise, von einer waagrechten, nur ganz leicht diagonal nach rechts abfallenden Linie begrenzt, das untere Viertel der Bildfläche einnimmt. Der Tisch ist von einem Braun mit grüngelblichem Anklang, einer Farbe, die derjenigen einiger der Sonnenblumen in der Mitte des Straußes entspricht. Die Oberfläche ist in breiten, kurzen Pinselstrichen ausgeführt, die mit ihren um die Waagrechte herum schwankenden Richtungen eine entfernte Abstraktion von Holzstruktur evozieren, genauso wie die plastisch aus der Bildfläche heraustretenden Grate, die durch den pastosen Farbauftrag entstehen.

          Die bauchige Vase ist, genauso wie die Tischplatte, mit einer dunkelbraunen Kontur umrandet, und genauso wie die Bildfläche als ganze, zweigeteilt: eine untere, graubraune Hälfte nimmt etwa diejenige Bildfläche ein, die die Vase vom Tisch verdeckt; und eine obere, grüngelbe Hälfte leitet, von dem hellgrünen Bildhintergrund sich abgebend, zu den Sonnenblumen selbst über. Die Konturlinie, die die beiden farblich verschiedenen Bereiche der Vase voneinander trennt, liegt etwa in der Flucht der hinteren Tischkante, hat aber eine konkave Form, entsprechend einem Blickpunkt des Betrachters, der deutlich höher liegt. Die untere Hälfte der Vase ist eher flächig gemalt, in pastoser Pinselführung mit uneinheitlicher Strichrichtung. Sie wirkt dadurch unruhig, was noch durch die in ihrem linken Zwickel diagonal aufgetragene Signierung „Vincent“ verstärkt wird. Unruhig bleibt auch die ansonsten so statisch dargestellte Tischplatte, denn die obere Kantenkontur verspringt rechts von der Vase deutlich (und kraß unrealistisch) gegenüber der linken Seite.

          Die obere Hälfte der Vase dagegen ist ein Meisterwerk des abstrakten Illusionismus: was aus der Nähe wie ein gegenstandsloses Mosaik aus kurzen, pastosen Pinselstrichen in verschiedenen Farbtönen aussieht, unter denen sich neben vielen verschiedenen Ausprägungen von Gelb auch dunkles Grün und helles Deckweiß befinden, erweist sich beim Betrachten aus dem Abstand als eine detailgenaue Abbildung der Spiegelungen und Schatten auf einer groben Steingutemaillierung, mit einem starken, reliefartig hervortreten- den weißen Glanzlicht in der vertikalen Mittelachse.

          Zu wirklichem Leben aber erwachen die Sonnenblumen selbst. Durch wiederum sehr pastose – und daher reichliche! – Farbverwen- dung erhalten die braunen Samenbetten ihrer Gesichter eine solch beeindruckende Textur, daß man unwillkürliche mit dem Finger über sie fahren will, um sich von der Echtheit dieses reliefartigen Bildphäno- mens zu überzeugen.

          Die weiter oben im Strauß arrangierten Sonnenblumenblüten haben kleinere, noch nicht zur Reife der Samen entwickelte Gesichter. Im Gegensatz zu den alten in der Mitte verfügen sie aber noch über ihre gelben Blütenblätter, die sich, genau wie die dunkelgrünen Kelchblätter, in wilden, verwundenen, wie tänzerisch anmutenden Bewegungen in das helle Grün des Hintergrunds hinausrecken und diesen in ekstatische farbliche Schwingungen versetzen.

 

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Zwölf Sonnenblumen in einer Vase

Vincent van Gogh, 1888

Van Gogh Zwölf Sonnenblumen in einer Vase

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