V.2. Das Gelbe Haus
Mitte September erhält Vincent etwas Geld durch eine Erbschaft und er beschließt, damit das Haus an der Place Lamartine zu renovieren, das er bereits seit Anfang Mai gemietet hat und in dem er sein Atelier unterhält. Zunächst will er es für sich selbst wohnbar machen und damit den Grundstein für seine geplante Künstlerkolonie, die „Werkstatt des Südens“ legen. Bald würden dann seine Malerkollegen aus Paris hierher kommen, einer nach dem anderen, ihm, dem Pionier der Malerei des Südens, also „Japans“, nachfolgend. Gauguin würde, sozusagen als „Abt“, der klösterlichen Künstlergemeinschaft vorstehen, und deshalb sollte er auch als erster seiner Freunde hier eintreffen.
Voller Freude macht sich van Gogh daran, das Gelbe Haus, sein neues Zuhause, zu malen. Nachdem er den Standort bestimmt hat, die Perspektive, aus der er das Haus wiedergeben will, fertigt er zunächst eine Zeichnung mit der Rohrfeder an, wie meistens. Erst danach nimmt er das Ölbild selbst in Angriff. Auf ihm würden sich dann einige motivische Klärungen gegenüber der Zeichnung finden, deren Grundanlage aber im wesentlichen erhalten blieb.
Unter einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel liegt das Gebäude an der Ecke des Platzes. Es hat zwei sich symmetrisch zueinander verhaltende Flügel, die durch einen schmalen Mittelteil miteinander verbunden sind. Jeder Flügel hat einen eigenen Eingang. Den rechten, ganz an der Straßenecke gelegenen hat der Maler gemietet; im linken dagegen befindet sich ein kleiner Lebensmittelladen, wie die Aufschrift „Comestibles“, auf der Zeichnung deutlich lesbar, verrät. Eine rosafarbene Markise schützt hier die Auslagen vor der Sonne, und in ihrem Schatten sitzt jemand auf einem Stuhl.
Die beiden Flügel wirken klein, sind nur zweistöckig, mit je einem flachen, giebelseitig zum Platz ausgerichteten Satteldach. Hinter dem Zwillingshaus wird, abgetrennt durch eine in den dahinterliegenden Hof führende Durchfahrt, ein großes, vierstöckiges Mietshaus erkennbar und dahinter wiederum eine Anzahl kleinerer Häuser. Nicht nur Vincents Haus, sondern die ganze Zeile ist in blasse Gelbtöne getaucht, die mit dem tiefen Blau des Himmels kontrastieren.
Ganz am Ende der Zeile überquert eine Bahntrasse mit einer geschwungenen Brücke die breite, auf der rechten Bildseite sichtbare Straße und verschwindet als haushoher Damm hinter den Gebäuden. Gerade fährt ein Zug von rechts kommend über die Brücke, mit seiner schwarzen, große und graue Rauchwolken aussendenden Lokomotive vorneweg. Gleich wird sie hinter der Häuserzeile verschwinden – aber genau diesen flüchtigen Moment hat der Maler festgehalten und verewigt.
Die Tür und das Fenster im Erdgeschoß von Vincents Haus, auf der Giebelseite, sind rundbogig und bis ins Bogenfeld hinein kleinteilig verglast. Stäbe und Sprossen sind dunkelgrün lackiert, ebenso die hölzernen Klappläden der beiden Fenster im Obergeschoß, in den Achsen der Öffnungen des Erdgeschosses gelegen. Die gegenüber der Straße etwas erhöhten Gehsteige entlang der Häuserfronten sind belebt, einzelne, buntgekleidete Gestalten, deren Gesichter nicht zu erkennen sind, gehen vorbei, und vor dem großen Mietshaus sitzt eine Anzahl von Personen an runden Tischen unter einem Vordach, das den gesamten Bürgersteig überspannt.
Aber wenn auch die beiden weit ausladenden Bäume am linken Bildrand, zum Teil von einem der Zwillingshäuser verdeckt, etwas von dem Park erahnen lassen, der an die Place Lamartine angrenzt und in dem sich der Maler gerne aufhält, weil er ihm eine Fülle von Bildmotiven liefert, so vermittelt das Gemälde doch nicht den Eindruck einer ganz dem Müßiggang verschriebenen Idylle. Schon der vorbeifahrende Zug – dessen Pfeifen man sich bei der Betrachtung des Bildes in der Vorstellung ergänzen muß – mit den vielen schwarzen, beladenen Güterwaggons und die beiden massiven, steinernen Brücken im Hintergrund vermitteln etwas von der Atmosphäre einer südfranzösischen Industriestadt. Überall wird gearbeitet, auch hier, unmittelbar am Gelben Haus. Die Straße selbst ist aufgerissen, vielleicht wurde eine Kanalisation verlegt, jedenfalls sieht man ausgehobene und aufgeschüttete Erdwälle, die sich vor den Gehsteigen der Straße und bis auf den Platz hinziehen.
Van Gogh liebt es, symbolische Bezüge in seine Gemälde zu integrieren. Mag sein, daß die Straße zur Zeit der Entstehung des Bildes wirklich in Arbeit war. Vielleicht hat der Maler dieses Element aber auch selbst hinzugefügt, um diskret darauf hinzuweisen, daß auch das Gelbe Haus in erster Linie eine Stätte der Arbeit ist. So geschäftig, wie sich die ganze Stadt unter dem dunkelblauen, mediterranen Himmel darbietet, so soll es bald auch in der „Werkstatt des Südens“ selbst zugehen. Noch endet der Erdwall vor dem Gelben Haus, aber er führt geradewegs darauf zu. Und die auf der Brücke eingefrorene Lok weist wie ein Finger von der anderen Seite her ebenfalls auf das Gelbe Haus, das damit an einer Stelle liegt, wo sich zwei schwer arbeitende Bewegungen in Kürze treffen werden.
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