VI.3. Der Sämann
Geht man im Spätsommer oder Herbst über die Felder, die jetzt abgeerntet und umgepflügt daliegen, so kann es vorkommen, daß man auf ihnen, unter einem bestimmten Himmel, zu einer bestimmten Tageszeit, einen ganz leicht violetten Schimmer gewahrt. Sind wir aber nun nicht gerade Maler, die es gewohnt sind, die Farben wirklich zu betrachten, all ihre Veränderungen genau zu beobachten, anstatt sie den Dingen bloß aus der Erinnerung heraus als einen feststehenden Begriff aufzuerlegen, so werden wir diesen Farbschatten kaum bemerken; und wenn man uns anschließend fragt, wie die Felder ausgesehen haben, so werden wir antworten: braun. Erst in dem Moment werden wir unsere Wahrnehmungsgewohnheiten erkennen, wenn uns ein Maler ein leuchtend violettes Feld präsentiert; dann fragen wir uns: kann ein Acker in der Wirklichkeit violett erscheinen? Und wenn ja, in was für einer Art von Licht, unter was für einem Himmel, zu welcher Tageszeit und in welcher Art von Landschaft?
Die violetten Erdschollen der frisch umgepflügten Felder faszinieren van Gogh schon im Juni 1888, unmittelbar nach der Getreideernte. Er sucht dieses Motiv mit demjenigen des Sämanns zu verknüpfen, der ja tatsächlich bald auf ihnen in Erscheinung treten wird. Jetzt, im Juni, ist der Sämann jedoch für den Holländer noch kein reales Erlebnis in der Crau-Ebene, sondern gänzlich mit demjenigen des Gemäldes „Der Sämann“ von Millet verknüpft, das van Gogh während seiner Studienzeit in einer Zeichnung kopiert und noch immer gut in Erinnerung hat. Vincent verfällt also auf die Idee – hat er doch schon lange keine Millets mehr kopiert –, dessen Sämann aus dem Gedächtnis in die provenzalische Farbenwelt der Crau zu verpflanzen.
Was dabei entsteht, ist ein Bild, in dem die Palette der Farben auf zwei reduziert ist: die Komplementärfarben Violett und Gelb. Drei Viertel der querformatigen Bildfläche nimmt das umgepflügte Feld ein, das der Sämann überschreitet, mit dem rechten Arm die Samen in einer kreisenden Bewegung verteilend. Zwei Drittel seiner Figur, rechts oben im Bild, heben sich, violett vor violettem Hintergrund, kaum mehr als durch ihren Konturen von dem Feld ab. Brust und Kopf hingegen ragen in den schmalen Streifen eines im Hintergrund noch stehenge- bliebenen, goldgelben Weizenfeldes hinein. Über dem Weizenfeld ist der Himmel leuchtend gelb, mit einer riesigen, untergehenden Sonnen- scheibe in der Mitte, die ihre Strahlen als radiale Farbschlieren in die umgebende Atmosphäre aussendet.
Den umgepflügten Acker hat der Maler offenbar zuerst mit einem Braun grundiert, in das sich gelbe und rötliche Farbklänge untermi- schen. Dann hat er das Violett der in der Sonne glänzenden Schollen, das manchmal etwas ins Blaue spielt, im Vordergrund des Ackers dunkler, im Hintergrund heller, in konvexen, sich hier und da fast zum Kreisrund zusammenziehenden Strichen aufgetragen. Die Unebenhei- ten dieses Ackers treten, wie so oft bei van Goghs Ölgemälden, durch den pastosen Farbauftrag so stark hervor, daß bei seitlicher Beleuch- tung des Bildes deutliche Schatten an den Farbgraten entstehen.
Ganz anders komponiert ist dagegen jener erneute „Sämann bei untergehender Sonne“, den van Gogh im November 1888 malt. (Von den beiden Fassungen dieses letzteren Bildes ist die kleinere, offensichtlich als Vorstudie dienende, nur 32 x 40 cm große Version die eigentlich interessantere.) Hier hat sich van Gogh von Millets Vorbild befreit und eine eigene Figur eines Sämanns geschaffen, jedoch offenbar aus der Phantasie. Die Gestalt ist, obschon im Vordergrund dargestellt, stark schematisiert und, ohne jegliche individuelle Züge, ganz auf ihre motivische Funktion beschränkt.
Dem Einfluß Gauguins verdankt sich wohl der vergleichsweise komplizierte Bildaufbau, der diesem Gemälde, das farblich demjenigen vom Juni nicht so fern steht, trotzdem ein ganz anderes Ambiente verleiht. Die Begrenzungen der Felder verlaufen jetzt nicht mehr waagrecht wie im Junibild, sondern kontrastieren als flache Diagonalen zu dem waagrechten Horizont. Dieser ist dafür in Bildmitte verlegt, was dem Gemälde etwas von der Statik zurückgibt, die ihm die diagonalen Feldränder und der auf den Betrachter zukommende, sich bereits unmittelbar vor ihm befindliche Sämann nehmen. Farblich ist das Novemberbild zwar wiederum an dem grundlegenden Komplementär- kontrast von Violett (Äcker) und Gelb (riesiger Sonnenball und Himmel) orientiert, aber reichhaltiger variiert. Der im Vordergrund gelegene Feldstreifen ist braun, und vor allem mischt sich einerseits in die Landschaft und andererseits in den Himmel auch leuchtendes Chrom- grün.
Die gravierendste Veränderung aber stellt der fast kahle Baumstamm dar, der sich, beinahe noch mehr Vordergrund beanspru- chend als der Sämann selbst, von der rechten unteren Ecke her diagonal ins Bild schiebt und die gesamte Bildfläche durchschneidet. Gleichermaßen an den Malerkollegen Gauguin wie an die japanischen Farbholzschnitte gemahnt diese Komposition. Die Wirkung auf den Betrachter ist fundamental und zeigt sich am besten beim Vergleich mit dem Junibild: während dort, trotz der starken Schematisierung ihrer Farben und Struktur, die Landschaft im Mittelpunkt steht, in der der Sämann kaum mehr als eine Staffage abgibt, zwingt der diagonale Baumstamm im Novemberbild die Aufmerksamkeit des Betrachters unausweichlich in den Vordergrund, also auf den Sämann, demgegen- über die Landschaft zur bloßen Kulisse herabsinkt. Wie ein Dach, ja, geradezu wie ein Baldachin überfängt der Ast mit dem dürren, welken Herbstlaub den Sämann, dem die hinter ihm untergehende Sonne einen geradezu gotisch-vergoldeten Heiligenschein verleiht. Und das farbig Gepunktete des braunen Feldes links vom Sämann gewinn nun, da das Auge des Betrachters in die linke untere Bildecke gelenkt wird, dorthin, wo sich die eindrucksvoll gezeichnete Hand des Sämannes öffnet, seinen Sinn: es sind die Samen, die aus der riesigen Handfläche wie ein bunter, fruchtbarer Regen auf den Ackerboden niederfallen.
Weiter mit dem nächsten Kapitel
|